Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
das Atmen. Alles gefror. Sie steckte ihren Kopf in die Decken, wo es nach Schmutz und altem Erbrochenem roch, nach ungewaschener Haut, nach Blut und menschlichen Dramen. Auch hierhin verfolgte Er sie, schnaubend, geifernd, und der eisgraue Speer suchte durch die Decken nach ihren Augen. Da sah sie hoch, und der Fahle wich zurück. Du wagst es, mich zu versuchen …
»Ja«, flüsterte sie. »Geh dorthin, wo du herkommst. Lass mich in Frieden!«
Die Hausfrau schöpfte aus dem Kessel und gab Máelsnechtai die Schale. Der setzte sie an seine bartumwucherten Lippen und schlürfte sie in einem Zug leer, nur um sie der Frau sofort wieder hinzuhalten. »Deine Wassersuppe löscht ja nicht einmal den Durst, Weib. Hast du kein Bier?« Sie schüttelte stumm den Kopf … wo war nur ihre Stimme geblieben? Und wo der schlecht gelaunte, polternde Mut von vorhin?
Máelsnechtai sah sich wieder um. »Wir suchen jemanden. Vielleicht hast du sie gesehen. Eine Frau. Klein, helles Haar – hm. Ja. Klein, sehr klein. Eine Zwergin. Helles Haar … ähm … Angelsächsin.« Er kratzte sich hinterm Ohr. Christina unterdrückte in ihre Lumpen ein Lachen. Mehr fiel dem Schotten also nicht ein zu ihr.
»Vielleicht reitet sie einen Gaul. Hast du sie gesehen? Es gäbe da eine Belohnung«, fragte er lauernd, während sein Begleiter, der sich gar nicht erst hingesetzt hatte, mit finsterer Miene und der Peitsche in der Hand ein weiteres Mal das Haus nach seinen Bewohnern absuchte. Christina verstärkte ihre Abwehr, und sein Blick glitt desinteressiert über ihren zusammengekauerten Körper. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er die beiden Schlaflager handgreiflich absuchen würde.
Beths Augen waren überall, das erkannte sie aus ihrem Versteck. Die ganze Zeit hatte sie sich geräuspert und gehustet, hatte Schleim hervorgewürgt und ausgespuckt, aber nicht auf den Boden, sondern in eines ihrer Tücher, von denen sie Unmengen in den Falten ihres Kleides aufzubewahren schien. Und dann sah Christina, wie sie beiläufig eine Handvoll Asche vom Boden aufhob und mit dem Zeigefinger die Asche mit dem Schleim vermischte, bis eine widerlich zähe Masse daraus entstand. Zwischen den Knien klappte sie das Tuch ein paar Mal auf und zu und rieb die Flächen gegeneinander. Christina schüttelte innerlich den Kopf. Sie musste wirklich den Verstand verloren haben.
Doch dann erhob sich die schwere Frau und reichte dem Mórmaer ihren vollen Becher. »Trinkt, hlæfweard , das wird Euch aufwärmen!« Dann schob sie sich Schritt für Schritt auf Christinas Lager zu. Christina hielt den Atem an – hatte die Gier sie überwältigt? Gier nach der Belohnung?
»Ei, ei, ei, mein Täubchen, was machst du nur«, summte Beth und machte sich an den Lumpen zu schaffen, »ei, ei, ei, so heiß, mein Täubchen – du brennst ja im Fieber, mein Täubchen! Heilige Jungfrau … was seh ich da … all die roten Flecken!« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Die roten Flecken und diese blauen Flecken … ei, ei, ei, Täubchen, die hatten wir doch heute Morgen noch nicht …«
Die Männer drehten sich zu ihr um. Der mit der Peitsche tuschelte Máelsnechtai ins Ohr, es klang nach »Dreckslumpen« und »sicher ’n Aussatz, hlæfweard «.
»Hast du etwa Kranke hier?« Der Mórmaer beugte sich stirnrunzelnd vor. »Hier im Haus? Warum sagst du mir das nicht, bevor du mich hereinbittest?« Dass er das Haus einfach betreten hatte, spielte jetzt keine Rolle mehr, und die Frau wusste auf den Vorwurf erst auch nichts zu sagen. Ein kleines Mädchen begann zu schluchzen. Durch den Schmutz kroch sie unter die Röcke ihrer Mutter.
Christina erkannte ihre Chance. Sie zog sich die Kapuze noch weiter über den Kopf und fing leise an zu stöhnen, wie Leute es tun, die im Fieberdelirium wild träumen.
»Allmächtige Jungfrau, ich wusste es!«, lamentierte Beth sogleich los, und Christina erkannte glücklich, dass sie denselben Gedanken gehabt hatten. Keine Gier, kein Wahnsinn, sondern Vorbereitung ihrer Flucht. Was auch immer sie mit dem widerlichen Tuch plante …
Und Beth zögerte nicht. »Allmächtige Jungfrau, ihre Pusteln laufen aus – liebste Freundin, wir haben nicht genug gebetet für das arme Kind … ach, habt Ihr ein wenig Leinen für mich, dass ich den Eiter aufwischen kann und er nicht Euer Bett tränkt, seht her, mein Tuch ist ja schon feucht – und seht, wie schwarz der Eiter ist, Jesus Christus, habt Ihr so etwas Schwarzes schon einmal gesehen …«
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