Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
ließ sie beide vorsichtig werden.
»Frauen im Haus«, murmelte Beth und streichelte den Hund, der schwanzwedelnd auf sie zugelaufen kam. »Und Kinder – seht!« Im Schein der Laterne erkannten sie vor dem Haus hölzernes Spielzeug im Schnee, eine Kinderleiter, eine vergessene Kuh aus Stroh und Ästen, die sich traurig der Nässe ergeben hatte. Wo Kinder waren, drohte keine Gefahr.
Auch wenn die Frau im Türrahmen alles andere als freundlich aussah.
»Wenn ihr keinen Ärger macht, könnt ihr bleiben – für eine Nacht. Aber ich hab nichts zu essen für euch. Sie haben uns alles genommen. Erst gestern kamen ein paar von diesen Normannen vorbei und fraßen meine ganzen Vorräte weg, und ich wusste abends nicht, was ich meinen hungrigen Kindern vorsetzen soll.«
Sie verschränkte die Arme vor der mageren Brust. »Meinen Mann haben sie im Sommer erschlagen, als er auf dem Feld arbeitete. Haben ihm einfach den Schädel eingeschlagen und dann seinen Brotbeutel und das alte Pferd mitgenommen. Der Sohn hat alles mit angesehen, er konnte sich gerade noch rechtzeitig verstecken. So läuft das hier mit uns Angelsachsen. An einem Tag kommen die Schotten und werfen uns Frauen in die Büsche, am nächsten Tag kommen die Normannen und schlagen unsere Männer tot. Dabei haben wir niemandem etwas zuleide getan, wir arbeiten hart und kommen gerade so über die Runden.« Sie hielt inne mit ihrem Klageschwall.
»Wo kommt ihr überhaupt her? Na, egal – Frauen lass ich in mein Haus. Kerle müssen draußen bleiben, so hab ich’s gehalten, seit sie meinen Mann erschlagen haben. Immer herein mit euch.« Und endlich trat sie zur Seite und schob die verwitterte Pforte ihres kleinen Hauses auf. Drinnen flackerte ein niedriges Torffeuer, um das sich fünf Kinder in allen Altersstufen scharten. Bleiche, hohlwangige Gesichter drehten sich zu den Gästen um, eine Katze drückte sich schnurrend um Christinas Beine. Einer der älteren Jungen sprang auf und rannte auf einen gebellten Befehl seiner Mutter aus dem Haus, um die beiden Pferde zu versorgen.
»Und dass du ja nicht zu viel Futter gibst!«, brüllte sie ihm hinterher. Dann drehte sie sich um und grinste. »Wenigstens spuren meine Jungs. Wenn ich die nicht hätte …« Sie seufzte schwer und betrachtete ihre Gäste genauer im Licht. »Und ihr seid also auf dem Weg nach Süden, ja? Dort werdet ihr nicht viel finden, im Süden, dort hat der Normanne alles verheert und, wie man sich erzählt, kaum was übrig gelassen. Die Angelsachsen haben ihre Normannen – wir haben unseren König Malcolm, der uns alle Jahre besuchen und töten kommt.« Sie lachte hart. »Ich sag meinen Kindern immer, dass sie schneller in den Himmel kommen, wenn sie von dem Schotten getötet werden, weil er ein verdammter Barbar ist und der Allmächtige Mitleid mit den Kindern hat. Der Normanne ist ein verdammter Heuchler und …«
»Ich kann deinen Kindern Warzen wegmachen, wenn du möchtest«, unterbrach Beth sie. »Ich versteh mich auf so allerlei.«
»Kommt herein, Warzen haben wir genug. Wir haben sonst nicht viel, aber Warzen, meine Liebe, an Warzen mangelt es mir nicht.«
Sie war närrisch. Ihr Blick irrte unruhig umher, ohne ihre Gäste zu mustern, wie man es vielleicht erwartet hätte, wenn Armut die Schöpfkelle unter Verschluss hält. Die Kinder rückten brav zusammen. Weil durch die geöffnete Tür kalte Luft hereingekommen war, nahm einer der Jungen ein Stück Torf vom Stapel und wollte es ins Feuer legen. Die Mutter schlug es ihm aus der Hand.
»Nichts da! Das muss für heute reichen – der Winter ist noch lang! Wäre euer Vater nicht so leichtsinnig gewesen, würde er noch leben und könnte euch Feuerholz schlagen!« Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz weg, während sie mit der anderen Hand den beiden Ankömmlingen einen Platz in der Runde zuwies. »Setzt euch, setzt euch, wer weiß, wann ihr wieder Gelegenheit zum Sitzen bekommt, der Normanne verbrennt ja selbst seine eigenen Schemel, setzt euch …« Und mit fahrigen Händen zupfte sie an ihrer Haube, deren Saum man ansah, dass sie einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Jetzt war sie nur noch ein Echo des verhärmten, hohlwangigen Frauenantlitzes, das sie umrahmte.
Wie schon an Berwins Feuerstelle bestritt Beth auch hier die Unterhaltung – Christina hätte man sofort ihre vornehme Herkunft angemerkt. Sie kauerte daher zwischen den Kindern, ohne Mantel und Rückenbündel abzulegen. Immerhin war ihr behaglich warm,
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