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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Beth hatte ihr aus den beiden Schneefuchsfellen und ein paar Riemchen eine Weste zusammengeknotet, die sie über ihrem Hemd und unter dem Kleid trug, damit sie sie wärmte und bei Neugierigen keine Begehrlichkeiten hervorrief.
    Die Mädchen hatten wackelnde Zähne und dicke Bäuche, das kleinste von ihnen konnte zwar laufen, hatte aber kein Haar auf dem Kopf. »Sie war mal blond«, meinte die Mutter kopfschüttelnd. »Na ja, hier findet sie sowieso keinen Mann, die sind ja alle tot. Tote schauen sich nicht nach Blondhaar um.« Ihr Blick glitt neidisch über Christinas dicken Zopf, der aus der Kapuze hervorlugte. »Und essen kann man’s auch nicht«, fügte sie bitter hinzu. Mit einer unwirschen Bewegung stopfte sie sich ihre eigenen fettigen Haarsträhnen unter die Haube, die so ausgeleiert war, dass sie die Haare nur ungenügend hielt. Beim nächsten Kopfschütteln rutschten sie wieder heraus und fielen ihr schwer auf die mageren Schultern.
    Ihre Berichte, wie übel man den Menschen in der Gegend mitgespielt hatte, verdarben Christina den Appetit, sie musste die dünne Wassersuppe förmlich hinunterzwingen und gab den Rest schließlich einem der Jungen, der sie gierig schlürfte. Das Fladenbrot roch modrig. Woher das Mehl dafür kam, wollte sie lieber gar nicht wissen. Alte Eicheln? Wenn man zu viele Eicheln in das Mehl rieb, rebellierten die Gedärme, das wusste sie von den Nonnen, die immer versucht hatten, die Almosenbrote damit zu strecken, um mehr Bettler speisen zu können.
    Das kleine Kind greinte vor sich hin. Nicht nur sein lumpiges Hemdchen stank ungewaschen. Sein Bäuchlein war grotesk aufgeblasen, und am Hals kratzte sich die Kleine einen schuppigen Grind so heftig auf, dass er nässte und sie nur noch mehr heulen ließ. Beth nahm sie auf die Knie und rieb ihr aus einem Tiegel nach Lavendel riechendes Fett auf den Hals.
    »Schau her, schau her, damit duftest du so schön, so schön, dass der König vom Weißen Land, vom Weißen Land vorbeischauen wird«, sang sie ihr vor, »du wirst schon sehen, wirst schon sehen …« Die Kleine starrte sie erschrocken an und heulte dann noch mehr, weil Beths Stimme so rau klang. Die Mutter lachte und reichte Beth eine dampfende Schale.
    »Hier, iss lieber, Anna weint immer, mach dir nichts draus. Sie muss meine Tränen weinen, ich hab nämlich keine Zeit dafür.«
    Christina nahm das Kind auf ihren Schoß. Immerhin roch es nun besser, und es hörte auch auf zu weinen, als es ihren Zopf zu fassen bekam. Es war schwächlich, würde vermutlich niemals das Alter seiner Geschwister erreichen. Sanft ließ sie ihre Hände über die dürren Ärmchen gleiten und schickte den Vogel aus. Er musste ja nicht weit flattern, und die Kleine lachte übers ganze Gesicht, als sie ihn auf sich zuflattern und über ihren Arm wandern sah … Christina lächelte. Sie strich über den kahlen, blau gefrorenen Kinderkopf, den niemand mit einer Haube vor der Kälte schützte. Der Vogel blieb dort sitzen und breitete seine Flügel behutsam über das kleine Mädchen aus …
    »Mach die Tür auf – hier sind Reisende, die ein Nachtlager brauchen!« Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, bollerte der Rufer mit der Faust gegen die Tür. Man hörte Stimmen, Pferdegetrappel. Männer saßen ab, ihre Schritte knirschten im Schnee. Ungeduldig wanderten sie vor der Tür auf und ab. »Ist denn hier niemand? Zum Teufel – öffnet!«
    Die Frau war in sich zusammengesunken. Mit großen, furchtsamen Augen fixierte sie die Tür, an jeder Seite umschlangen ihre Arme ein Kind und drückten es an sich.
    »Die Normannen haben wohl mehr als nur ihren Mann erschlagen«, raunte Beth. »Macht Euch bereit, schnell zu verschwinden, das hier riecht nicht gut …« Beiläufig zog sie sich den Mantel über die Schultern, damit sie ihn nicht auch noch verlor.
    Die ärmliche Hütte war schon überfüllt, als der erste Reiter sie ungebeten betrat. Seine breiten Schultern schienen bis an die Deckenbalken zu reichen, sein Kopf verschwand zwischen Büscheln aus zusammengebundenen Zwiebeln, getrockneter Minze und langen, stacheligen Gagelstängeln. Mit einer wilden Bewegung wischte er all das zur Seite. Christina traute ihren Augen kaum. Máelsnechtai, der Mórmaer von Moray, stand in der Tür.
    Noch hatte er nicht alle Anwesenden in Augenschein genommen, war zu beschäftigt mit den Büscheln und was ihm in den Haaren hing und zwischen die Lippen geraten war und was er erst einmal ausgiebig und lautstark auf den Boden spucken

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