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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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entlanggezogen«, hatte der Viehhirte noch erzählt. »Gott vergebe mir – aber der Teufel soll ihn holen! Vergangenen Winter ist der verdammte Schotte wiedergekommen, doch es gab nichts mehr zu räubern, er hatte schon alles mitgenommen. Vor lauter Wut darüber zündete er an, was noch nicht verbrannt war. Die Normannen, die den Süden verwüstet haben, fanden nur noch Trümmer vor.«
    »Den Süden verwüstet?« Entsetzen machte sich in Nials Brust breit. Hatten sie nicht genug erlebt? »Was weißt du?«
    »Nur das, was die Fahrenden sich erzählen.« Der Viehhirte hatte versucht, ihm unter die Kapuze zu schauen, doch Nial verharrte in seiner gebückten Haltung auf dem Pferd. Es war in diesen Zeiten besser, ein Schatten in der Erinnerung zu bleiben. »Sie erzählen sich, dass es einen Aufstand in York gegeben hat. Wilhelm hatte dort einen seiner vornehmen Männer auf den Stuhl der Macht gesetzt, den er zuvor dem Northumbrier, diesem Cospatric, weggenommen hatte. Dieser vornehme Wilhelm-Getreue ist ermordet worden, worauf der Eroberer Rache geschworen und ganz Yorkshire verwüstet hat. Seine Leute kamen bis zum Ufer des breiten Tees, da wurde es ihnen wohl zu nass, oder sie waren zu einfältig, die Furt zu suchen. Hm – vermutlich hatten sie auch schon alle getötet, die ihnen die Furt hätten zeigen können.« Er hatte verächtlich auf den Boden gespuckt.
    »Nun ja – nördlich des Tees war ja schon König Malcolm gewesen und hatte nichts als verbrannte Erde übrig gelassen. Da sind sie wohl am Ufer wieder umgedreht, erzählt man sich, und haben halt den verbrannten Erdboden noch umgepflügt, damit die Toten auch im übernächsten Jahr nichts zu beißen haben. Tja … wenn sie ein drittes Mal kommen, nehmen sie vermutlich das Erdreich mit und lassen uns den nackten Fels zurück. Ich hab mich jedenfalls mit meinem Vieh in einer Höhle unten am Meer verborgen und halte es mit Algen am Leben. Meinen ältesten Jungen haben sie beim Wildern erwischt.« Er hatte Christina scharf gemustert, ihr hübsches Gesicht lange betrachtet. Nial hatte sich gezwungen wegzuschauen; nur so nahm der Wind jene besitzergreifenden Gedanken mit sich, welche die Eifersucht ihm ins Herz pflanzte – selbst hier, wo keine Gefahr drohte. Der Viehhirte hatte davon natürlich nichts bemerkt und stattdessen in seinem Umhang genestelt.
    »Normannen ziehen immer noch umher, mit hungrigen Waffen und Hass im Herzen. Vor Pilgern hat hier niemand mehr Respekt. Vor Pilgern mit solchen Tieren …«, er zog die Brauen hoch, »… erst recht nicht. Seht euch also vor, wenn ihr nicht zu Fuß weiterziehen wollt. Hunger macht blind, und eure Tiere werden in diesem leergeräumten Land Begehrlichkeit wecken.« Und er hatte ein Stück trockenen Fisch hervorgezogen.
    »Gott segne euch zwei Pilger. Möge Er dafür sorgen, dass ihr wohlbehalten in Jarrow ankommt. Und sagt Ihm ein Gebet für den Viehhirten aus der Höhle. Für meine toten Jungs kommt jedes Gebet zu spät.« Damit hatte er den Fisch in Christinas Hände gelegt – vermutlich war das sein ganzer Schatz und vielleicht die Ration der nächsten zwei Tage. Nial hatte ihn murmelnd gesegnet, und sie waren rasch weitergezogen, beide nun in merkwürdiger Eile. Er hasste sich dafür, dass seine Beweggründe zum Teil auch nur beschämend sündiger Herkunft waren …
    Der ewige Regen hatte nachgelassen. Das Licht ging allmählich zur Neige, doch man hätte durchaus noch ein wenig weiterziehen können. Nial bestand auf einer Pause. Er hielt das Pferd an und stieg einfach ab. Der Schimmel blieb sofort stehen, nur noch die Ketten seines Zaumzeugs klingelten leise im Wind.
    »Lass uns weitergehen«, sagte Christina müde.
    »Ich mach dir ein Feuer.« Verständnislos schaute sie ihn an. »Du musst ausruhen«, ergänzte er.
    »Nein«, protestierte sie. Er ließ sich nicht davon abhalten, trockenes Holz zu suchen, und labte sich an dem stechenden Schmerz, den er jedes Mal, wenn er sich bückte, in der Brust verspürte. Der Schmerz würde ihn davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun, alles zu gefährden … Das Bücken gab ihm einen Rhythmus, und er schaffte es, diesen Rhythmus in ein Gebet zu verwandeln, bei dem er Christinas Gegenwart verdrängen konnte … » Adhaesit anima mea post te, me suscepit dextera tua. Ipsi vero in ruinam quaesierunt animam meam, introibunt in inferiora terrae …« Er sprach die Verse in Gedanken, was ihn zu noch mehr Konzentration und Sammlung zwang. » Adhaesit anima mea post te, me

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