Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
worden war. Ein nie gekanntes Gefühl von Friede und Sicherheit deckte sie zu und wärmte ihre frierende Seele, und der Schlag seines Herzens gab den Takt für ihren Atem, der sich von alleine kaum beruhigen wollte. Nials Hand strich sanft über ihre Schulter. Sonst tat er nichts, und er sprach auch nicht.
Der Wind rauschte in den Bäumen und tat kund, niemandem etwas von dem zu verraten, was er gesehen hatte. Die Nacht setzte sich zu ihnen, betrachtete sie beide – und lächelte still.
Etwas lag noch zwischen ihr und dem Schlaf, der so dicht bei ihnen mit friedlichen Händen auf sie wartete. Eine Frage, die sie seit gestern mitschleppte und für die sie sich schämte … Sie brannte ihr auf der Zunge, und vielleicht war dies der rechte Ort, um sie loszuwerden.
»Hatte … Nial, hat dein Bruder recht? Stimmt es, dass du ihm alles weggenommen hast?« Sie hob den Kopf, so weit es an seiner Schulter ging. »Sein Weib? Stimmt es, was er gesagt hat? Dass du ihm sein Weib weggenommen hast?«
Nial legte auch den anderen Arm um sie, obwohl es ihn sichtlich an der Brust schmerzte, und seine Hand stahl sich mit einer intimen Berührung in ihren Nacken, als er sie dichter an sich zog.
»Máelsnechtai ist ein Großmaul, aber er hat die Wahrheit gesprochen. Ich hab ihm einst sein Weib genommen.« Er tauchte ein in ihren fragenden Blick und wurde in stummer Erwartung empfangen. Doch er machte keine Anstalten, sie zu küssen. Er liebkoste nur ihren Nacken, schob mit Daumen und Zeigefinger die feinen Härchen am Halswirbel zusammen …
»Und ich werde es wieder tun«, flüsterte er.
»Nanu?« Fauliger Atem wehte in ihr Gesicht.
Christina schlug die Augen auf. Jemand hielt eine Laterne so dicht vor ihren Kopf, dass ihre Wange fast versengt wurde. Sie kniff die Augen wieder zu und schüttelte sich unwillig, schlang noch im Halbschlaf den Arm um Nial.
»Hat euch niemand gesagt, dass es ein ordentliches Wegegeld kostet, in meinem Wald zu schlafen?«, fragte es rau hinter dem grellen Licht.
Der Atem roch übelkeiterregend. Angewidert drehte sie den Kopf in Nials Achsel, immer noch unsicher, ob sie träumte.
»Sicher machst du eine Ausnahme, Lazarus«, hörte sie da Nials ruhige Stimme. Das war kein Traum. Seine Stimme indes legte nahe, dass alles in Ordnung war, und so wagte Christina sich vertrauensvoll aus ihrem Versteck … und musste in das Antlitz eines Dämons schauen!
Dicke, wulstige Knoten bedeckten ein mondartiges Gesicht voller tiefer Hautkrater, in denen gelbe Krusten Eiter überdeckten. Jetzt öffnete sich die Stelle, wo bei Menschen der Mund sitzt. Ein schwarzer Stummelzahn glänzte speichelbedeckt im Kerzenschein, und der Atem sandte Pestilenz …
Sie schrie auf. Nial packte sie unsanft und drückte sie an sich. »Wir sind auf dem Weg nach Jarrow, Mann. Wir sind Pilger. Vielleicht kannst du uns weiterhelfen.«
Der Dämon lachte lautlos und aus der Tiefe seines Kehlkopfs. Dann verstummte er und hockte sich neben das Feuer, um sie schamlos zu begaffen. Weil Nial weiterhin so ruhig blieb, bekämpfte sie ihre Furcht. Vielleicht war es kein Dämon. Er bewegte sich wie ein Mensch, er trug Kleider wie ein Mensch. Auch die Stimme hatte fast menschlich geklungen. Vorsichtig spähte sie durch die langen Haare des Schneefuchsfells, krallte ihre Hand in Nials Seite, falls es doch gefährlich werden sollte … Der Dämon saß nur da, und jetzt verdeckte auch eine riesige Kapuze, was sie vorhin so erschreckt hatte.
Die Laterne behielt er in der Hand – nach einem weiteren verstohlenen Blick erkannte Christina auch, warum: Das, was aus dem Ärmel seiner braunen Kutte hervorlugte, war keine Hand, sondern ein narbiger Fleischklumpen mit Resten von Fingergliedern, an den die Laterne mit einem Lederriemen festgebunden war. Die andere Hand mit immerhin vier Fingern hielt unmissverständlich einen Knüppel in die Höhe. Doch dann legte der Dämon den Knüppel auf den Boden und schob sich die Kapuze vom Kopf.
»Helfen? Ich euch helfen? Ihr – ihr habt keine Angst vor mir? Keine?«, fragte er ungläubig. Seine Augen wurden mit jedem Wort größer. Selbst das Feuer züngelte vor lauter Neugier empor, um Licht auf das entstellte Gesicht zu werfen. Über den wimpernlosen Augen gab es auch keine Brauen mehr. Die Lippen waren von Knoten umwuchert und bewegten sich schwerfällig, wenn er sprach. Doch war es nicht nur sein Mund, der fauligen Geruch verströmte. Aus ihrem sicheren Versteck an Nials Brust ließ Christina den Blick
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