Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Mórmaer ihm diese Treue besser gelohnt hatte, als sie es damals mit ihren Händen gekonnt hatte.
Je weiter sie nach Süden kamen, desto nasser wurde es. Der Schnee hatte sich in Regen verwandelt und das Land mit einer Decke aus Schlamm überzogen. Ihr Kleid hing schwer an ihr herab, der Matsch hatte sich fast bis zu den Knien hochgearbeitet und fingerte nach ihren Hüften, nachdem sie ein paar Mal gestrauchelt war und sich nur mit Mühe an der Mähne des schwarzen Pferdes festhalten konnte. Wenn sie nicht mehr laufen konnte, ritt sie ein Stück auf dem weißen Pferd des culdee , das brav neben ihnen hertrabte. Doch fühlte es sich besser an, neben Nial herzugehen, so war sie dichter bei ihm, konnte dann und wann ihre Hand um seine Hüfte wandern lassen, und manchmal hatte er ihre Hand genommen und einfach nur festgehalten. Sie hatten sich gegenseitig Mut gemacht, so gut es ging, wenn einer dem anderen nicht helfen konnte. Nial hatte ihr versichert, dass er keine Schmerzen hatte – was natürlich eine Lüge war – und dass sie wegen ihm nicht schon vor dem Abend ein Lager suchen musste. Sie hatte ihm nicht geglaubt, war ihrerseits aber tapfer weitergewandert, obwohl bleierne Müdigkeit ihre Beine umfing und jeden Schritt in den ausgetretenen Schuhen zur Qual machte. Der Ton in ihrem Ohr war zu einem feinen Brummen geschrumpft, nichts Bedrohliches, nur ein Ton.
Die Pausen verbrachten sie meist schweigsam, auch wenn ihnen viel unter den Nägeln brannte, was sie hätten bereden sollen, was es zu erzählen gab. Mal wachte er über ihren Schlummer, mal schickte sie ihn schlafen, das erbettelte Essen teilten sie im Bewusstsein, dass jeder von ihnen seinen Anteil unbedingt essen musste, um bei Kräften zu bleiben.
Er kam vom Strand der Pilger und war für sie nun selbst zu einem geworden.
Einzig das Stundenbuch blieb ruhig und tat so, als hätte es den Fahlen und den unheimlichen Schrecken, den er verbreitete, niemals gegeben. Es gab ihn ja auch nicht – nicht für die anderen, nicht einmal für Nial. Sie litt darunter, dass der Fahle sich ausschließlich ihr zeigte und dass sie ihre Furcht mit niemandem teilen konnte. Manchmal befühlte sie das harmlose Paket auf ihrem Rücken und musste die Angst davor unterdrücken, dass es wie ein Dämon jederzeit zubeißen und sie peinigen konnte. Doch die Erinnerung an die weinende Margaret stärkte ihren Willen, die Beklommenheit im Zaum zu halten und ihr Ziel – das Kloster von Jarrow – nicht aus den Augen zu verlieren. Gott würde sie nach Jarrow führen. Mit jedem Hügel, den sie hinter sich brachten, wuchs ihre Zuversicht in Seine Hilfe. Er hielt ihre Schwester in Seinen gütigen Händen – Er würde auch sie beschützen …
Das Meer lag wie eine düstere Wand vor ihnen. Sie hatten sich entschlossen, am Meer entlang nach Süden zu wandern, um nicht die Richtung zu verlieren, denn die Sonne zog es vor, hinter dichten Wolken zu bleiben und gerade so viel Licht zu spenden, dass das Land durch einen hellgrauen Schleier zu erkennen war. Bäume und Hügel verschmolzen im Winterdunst miteinander, und so mancher Pfad verschwand einfach im Nirgendwo. Das Meer stemmte den Dunst mit starken Armen empor, blies ihnen Salz ins Gesicht und war ihnen Wegweiser durch das Grau.
Diesen Rat hatte ihnen ein Viehhirte gegeben, den sie am Mittag um eine Schale Milch gebeten hatten. »Der Weg wird euch narren«, hatte er gesagt. »Da ist es gut, das Meer zur Linken zu haben – das Meer ist immer da, auf jeden Fall hörst du es immer, und es wird dich nach Jarrow begleiten.« Seine Augen waren so grau wie die Umgebung gewesen – vielleicht war er auch ein Wesen aus dem Meer mit seinen tropfnassen langen Haaren und dem zerfetzten Mantel. Wenn er sprach, legte sich ein feiner Nebel auf ihr Gesicht, und es war schwer zu sagen, ob der vom Regen kam oder aus seinem Mund. Doch sie hatte keine Angst vor ihm verspürt, und auch die Stute war ruhig geblieben. Christina entdeckte, wie ähnlich ihr Gespür dem des Tieres war und dass sie sich selbst durchaus vertrauen konnte.
Das Meer spülte sie vorwärts, es begleitete jeden ihrer Schritte und betäubte mit seinem ewigen Rauschen ihre Ohren. Sein Salz ließ ihre Augen tränen, wenn sie an ausgebrannten Ruinen vorbeizogen, wo der Wind durch die Überreste von Dachstühlen heulte und sich Stück für Stück seine Mahlzeiten aus den ärmlichen Lehmmauern brach. Menschen, die sie erbaut hatten, trafen sie nicht.
»Der Schotte ist doch hier
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