Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
ist«, wisperte sie so dicht bei ihm, dass ihre Lippen die seinen beim Formen der Worte berührten. Und es tat gut, ihn dabei anzulächeln, auch wenn er es nicht sehen konnte. Flüchtig verdunkelte sich sein Blick, mit seiner suchenden Hand rieselte ein Schauer über ihre Haut, und sie hätte glatt vergessen können, wo sie war und was sie vorhatte, hätte sich nicht das Stundenbuch mit Wucht auf ihre Schultern gesenkt und sie an Margaret erinnert.
In dir ist genug Leben, um mich zur Sünderin zu machen, schoss ihr durch den Kopf, doch sie konnte nicht anders – sie musste sich einen letzten Kuss von seinen Lippen stehlen, bevor sie sich von ihm löste, aufrichtete und ihren Ellenbogen unter seinen Arm hakte.
»Christina«, protestierte er, doch sie ließ nicht locker und schaffte es, ihn unter Máelsnechtais unaufhörlichen Gebetsworten hinzusetzen. Ihre Kraft hatte nicht ausgereicht, seine Wunde zu schließen, doch hatte sie aufgehört zu bluten. Er konnte wieder atmen und die Arme bewegen. Er würde auch aufstehen und mit ihr gehen können, bis sie genug Kraft für einen weiteren Versuch gesammelt hatte.
» Inhabitabo in tabernaculo tuo in saecula, protegar in velamento alarum tuarum, quoniam tu, Deus meus, exaudisti vota mea, dedisti hereditatem .«
Vielleicht war es die Stimme seines Bruders, die Nial auf die Füße half. Vielleicht auch Christinas Hingabe und Anstrengung, ihn zu unterstützen, obwohl sie kaum halb so groß war wie er. Vielleicht reichte Gott selbst ihm die Hand, und wenn, dann tat Er das, ohne sich um die unkeuschen Sehnsüchte zu scheren, welche die Luft zwischen Christina und dem schottischen culdee zum Schwingen brachten.
»Ich bin kein Krieger mehr«, flüsterte Nial voller Scham, als es ihm kaum gelang, sich gerade hinzustellen. »Verdammt, ich bin kein Krieger mehr, verlache mich nicht …«
Sie drehte ihn ins Mondlicht, um das Ausmaß der Verletzung in Augenschein zu nehmen. Máelsnechtais Klinge hatte ihm die Brust aufgeschlitzt, die blutige Kutte hing ihm bis zur Hüfte herunter. Das Einzige, was sie tun konnte, war, ihm das Schneefuchsfell umzubinden, damit seine Brust vor Stößen und Wind geschützt war – und ihn an einen Ort zu bringen, wo man seine Verletzung versorgen konnte.
»Ich verlache dich nicht, Nial«, raunte sie ihm ins Ohr. Und weil offensichtlich war, dass es ihm nicht gelingen würde, das weiße Pferd zu besteigen, weil es zu groß war, führte sie ihn zu der struppigen, schwarzen Stute, die sich bereit erklärte, ihn zu tragen, obwohl sie sich Christina ergeben hatte.
Der Mond begleitete sie aus der Ebene hinauf in die Berge, und noch lange hörten sie die Stimme des Mórmaer hinter sich, gefangen im Bann Gottes.
»Quia factus es spes mea, turris fortitudinis a facie inimici. Inhabitabo in tabernaculo tuo in saecula, protegar in velamento alarum tuarum …«
ELFTES KAPITEL
Libera me, Domine, de morte aeterna,
in die illa tremenda,
Quando caeli movendi sunt et terra.
Dum veneris iudiocare saeculum per ignem.
(Responsorium der Exequien)
E s sei nicht mehr weit bis zum Tyne, hatte die Frau gesagt.
Schon wieder ein Fluss. Christina war die Flüsse so leid. Seit sie vom Forth aufgebrochen war, hatte sie unzählige Flüsse durchquert, war bis auf die Haut nass geworden oder hatte sich die Überfahrt erbetteln müssen. Letzteres hatte Beth so gut gekonnt. Sie vermisste die wackere Gefährtin sehr …
Nun hatte sie einen Mann bei sich, dessen Verletzung ihre Reise weiter erschwerte. Er hatte sie beschützen wollen – nun war es umgekehrt, und sie musste für ihn sorgen. Sie lernte ihre Eile zu zügeln und ein Tempo zu bestimmen, das sie beide einhalten konnten. Sie zwang sich, nicht so oft zu ihm aufzuschauen. Selbst wenn sie nicht hinsah, wusste sie doch, dass er nach einem längeren Ritt gekrümmt über dem Mähnenkamm der schwarzen Stute hing, weil er sich vor Schmerzen kaum aufrecht halten konnte. Dann war es Zeit für eine Pause.
Sie hörte, wie er flüsternd um Kraft und Durchhaltevermögen betete und um Gottes Erbarmen mit einem Sünder. Noch lange hatte das schauerliche Wolfsgeheul sie begleitet, und sie hatten zugesehen, dass sie die Ebene hinter sich ließen – ohne sich noch einmal nach Máelsnechtai und Ruaidrí umzudrehen. Christina hatte sich bemüht, nicht an die grenzenlose Enttäuschung über Ruaidrís Untreue zu denken und sich gar nicht erst zu fragen, was ihn dazu bewogen hatte, sich so offen gegen sie zu stellen. Und ob der
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