Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
nicht bereuen. Das verspreche ich euch.« Bei seinen Worten malte sich Erstaunen auf Christinas Zügen. Vermutlich fragte sie sich, was er diesen Menschen geben konnte. Das wusste er selbst nicht, aber ihm würde schon etwas einfallen, wenn er nur nicht von ihr getrennt würde. Nötigenfalls würde er ihnen auch das Himmelreich herbeireden, Hauptsache, er konnte in Christinas Nähe bleiben. Doch alles blieb ruhig, gleich zwei kamen, halfen ihm auf und hakten ihn unter. Stumm schleppten sie ihn von der Lichtung, wo der Letzte das Feuer austrat und den Ort der Dunkelheit überließ.
Lazarus drehte sich noch einmal kurz um und musterte ihn. Und er schien zu verstehen, dass Christina zu ihm gehörte.
Der Weg durch den Wald war nass. Es schien, als legten es die Bäume darauf an, das Wasser von ihren Ästen auf die Menschen zu werfen und ihre Kleidung so zu tränken, dass am Ende des langen Weges nur noch der Wunsch nach einem trockenen Platz übrig blieb. Trotz Fellweste rann Nial der Regen am Hals hinab und über die Schultern den Rücken hinunter, dass die Kutte ihm an der ungewaschenen Haut klebte, als hätte sie jemand mit Sirup bestrichen. Und so war selbst er froh, als sich im Licht der Laterne endlich das Ende des Waldes abzeichnete – und ein düsterer Wall am Waldrand. Es war ein Langhaus, wie es die Bauern zu bewohnen pflegten, und das durchhängende Dach und die eingedrückten Mauern verrieten, dass freiwillig hier niemand mehr hauste. Eigentlich war es eine Ruine, durch eine morsche Holztür gegen Eindringlinge geschützt.
»Ich weiß noch nicht genau, was ich eigentlich von dir brauchen könnte. Deine Kutte hat auch schon bessere Zeiten gesehen.« Der Kapuzenmann blieb neben der Mauer stehen. »Immerhin bist du trotz der Lumpen ein richtiger Mann Gottes – wir dürfen nur Seine Kleider tragen und büßen, bis die Knie blutig sind. Und wir wissen jetzt schon, dass uns keine Vergebung zuteil werden wird.« Sein Lachen klang bitter und passte zu dem Haus.
»Das ist nicht an Euch, das zu entscheiden«, wandte Nial ein.
»Ach, Schnickschnack. Seid einfach meine Gäste.« Lazarus hob einladend die Stummelhand. »Habt keine Sorge, mein Heim zu betreten, euch soll kein Leid geschehen. Und habt keine Angst, Pilger. Ihr seid in Gottes Hand. Und wir wissen, was sich gehört.« Mit diesen Worten schob er das zerfressene Bärenfell beiseite, das den Eingang zusätzlich verhängte. Die anderen Kapuzenmänner warteten schweigend, dass Nial als Erster die Ruine betreten würde.
»Kann ich dir trauen?«, fragte er mit einem Rest an Argwohn.
»Tu’s doch einfach. Ich geb dir mein Ehrenwort, dass euch nichts passiert«, erwiderte der Entstellte mit fester Stimme. Nial begriff, dass er jemandem gegenüberstand, der seinesgleichen gewesen war, bevor Gott ihn an eine Stelle gesetzt hatte, von der es kein Zurück in den Kreis der Menschen mehr gab. Und so nickte er nur. Christina würde das Haus im Übrigen auch ohne ihn betreten, das sah er ihrem entschlossenen Gesicht an.
Sie hausten zu vielen in der Ruine, eigentlich gab es keinen Platz für weitere Schutzsuchende. Doch sie drängten ins Haus, denn es begann zu regnen – jener aufdringliche Winterregen, der es schaffte, auch die untersten Kleiderschichten zu durchdringen, dass sie nie mehr trocknen würden. Erst recht nicht an kraftlosen, kleinen Feuern.
Lazarus hob die Laterne hoch. Vermutlich war sie die einzige Lichtquelle an diesem Ort. Notdürftig beleuchtete sie die am Boden liegenden Menschen, unförmig unter Lumpen und Decken und Fellen begraben und gegen die feuchte Kälte dicht aneinandergedrückt, kaum voneinander zu unterscheiden. Manche drehten sich neugierig um, andere blieben reglos liegen. Woher der Gestank kam, verbarg die Lampe gnädig. Es war nicht nur die drangvolle Enge und der Kot der umherstreunenden Ziege oder der Schimmel aus den Brotvorräten. Christina ahnte, dass genau so der Tod auf Raten roch. Er vermischte sich mit dem stockig klammen Geruch nasser Kleider und legte sich klebrig auf die Lunge.
Doch gewöhnte man sich schnell daran. Der Mief der vielen Menschen suggerierte Wärme, wo keine war, und das schiere Glück, von oben nicht nass zu werden, versöhnte sie mit dem grausigen Geruchskanon. In beinah allen Schlafkammern, in denen sie seit London zu Gast gewesen war, war es ihr so ergangen. Trotzdem dachte sie mit Wehmut und Dankbarkeit an ihren sauberen, gut gelüfteten Klosterschlafsaal zurück. Er schien ein ganzes Zeitalter
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