Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
und verkniff sich einen Aufschrei, als das kalte Wasser des Tyne bis zu den Oberschenkeln hochleckte. Niemand hier hatte Mitleid – alle froren und waren hungrig, und in Gesellschaft des Schotten half es ihr nun nicht mehr, dass sie eine Dame von Geblüt war. Der Schotte würde die Dame von Geblüt als Bettgenossin benutzen, aber ihr sicher nicht …
Es platschte, und dann stand er neben ihr im Wasser. Im nächsten Moment hing sie auf seinen Armen. »Ihr sollt nicht denken, dass nur Mönche schmeicheln können«, grunzte er schweratmend und schleppte sie an Land, wo er sie unerwartet sanft zu Boden gleiten ließ und am Schluss ihren Kopf in seine Pranken nahm. »Nehmt dies als Schmeichelei eines richtigen Mannes, hlæfdige .« Sein Gesicht war sehr ernst, als er weitersprach. »Ich trage Euch nach Moray, wenn Euch das gefällt. Auf meinen Händen.«
Die braunen Augen spielten mit ihrem Antlitz, tanzten suchend über ihren Mund, und er hatte sie immer noch nicht losgelassen. Christina wusste nicht, wohin sie schauen sollte, seine Augen nagelten sie förmlich fest und versuchten sich in Weichheit – ja, glaubte er denn wirklich, dass sie seinen Kampf mit Nial vergessen hatte? Die Verwüstung, die er im Haus der Kätnerin angerichtet hatte? Er erlöste sie schließlich aus seinem Griff, denn die Pferde waren noch auf dem Floß und die beiden Kerle dort brüllten sich gegenseitig unverständliche Befehle zu. Sie tauchte unter seinen Armen weg und lief zu ihrem Pferd.
Die Stute schnaubte. Ihre Nüstern blähten sich, und Christina dachte, dass sie noch von der Überfahrt aufgeregt war, doch sie hatte den Fahlen entdeckt, der ihnen über den Fluss gefolgt war und sich nun am Ufer präsentierte wie ein geiler Hengst. Das tat Er jedoch nur, um zu verbergen, was hinter Ihm lauerte. Du entkommst mir nicht , hörte sie Ihn noch …
Zu viert sprangen sie laut schreiend aus dem Dickicht hervor. Mit gezückten Waffen, Speeren, Schwertern, einer Mistgabel, rannten sie auf die Ankömmlinge am Ufer zu. Ihre Füße sanken tief in den Schlick, trotzdem bewegten sie sich mit großer Sicherheit – ganz so, als ob sie das hier nicht zum ersten Mal taten. Selbst ihre Schreie hatten etwas Rituelles, als hätte der Schrecken schon viele Male zuvor gewirkt. Der Mórmaer wusste in der Tat auch nicht, wohin er als Erstes schauen sollte, sein Schwert fuhr unentschlossen aus der Scheide und blieb in der Luft stehen. Ruaidrí kam gar nicht dazu, seine Waffe zu ziehen, das Pferd neben ihm stieg vor Schreck und riss ihn dabei fast von den Füßen.
Die wirkliche Gefahr aber hockte am Waldrand – ein Bogenschütze auf einem Stein, der mit großer Ruhe einen Pfeil anlegte, den Bogen langsam spannte, zielte …
Christina sah ihn, sah, wie der Pfeil hin und her schwenkte, als könnte der Schütze sich nicht entscheiden, auf wen er zuerst zielen sollte – den großen Schotten, die Frau, den schmalen Mann oder doch den großen Schotten …
»Vorsicht!«, schrie sie auf und ließ ihr Pferd ebenfalls los. Ruaidrí hatte den Schützen auch gesehen. Er rappelte sich auf, da sirrte der Pfeil schon los, flog wie ein aufgeregter Vogel durch die kalte Luft und machte immer noch ein schauerliches Geheimnis daraus, in welchen Körper er einschlagen würde.
Ruaidrí schrie. Wusste er es? Mit einem Riesensatz warf er sich zur Seite, vor Christina, just in dem Moment, als der Pfeil sie ausgewählt hatte. Tief bohrte sich das Eschenholz stattdessen in seine ungeschützte Brust. Der Schrei begleitete seinen Fall, sie fühlte seinen Körper auf sich zucken, im Schmerz sich aufbäumen, und er schrie, schrie furchtbar laut … Und dann fiel Ruaidrí und begrub sie unter sich, und das war zugleich ihre Rettung, weil noch mehr Pfeile über sie hinwegflogen, doch nun ohne Ziel.
Der Mórmaer stand zu weit abseits. Wutschnaubend hob er seine Waffe, als er sah, dass sein Getreuer gefallen war. Christina arbeitete sich voller Panik unter dem Sterbenden hervor und versuchte in Máelsnechtais Richtung zu kriechen – eine törichte Idee, denn die Angreifer hatten sie fast erreicht, und ihre Waffen versprachen, alles hinzuschlachten, was sich noch bewegte. Auch die Männer auf dem Floß bewegten sich – sie hatten ihre Chance zur Rache gewittert und zückten Holzstangen und sprangen von hinten auf den Mórmaer zu, und ihre ersten Streiche verfehlten ihn nur knapp.
» Hlæfweard , hinter Euch!«, brüllte Christina mit aller Kraft und duckte sich wieder, da hatte er
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