Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
was hatte der Bruder mit ihr gemacht? Lebte sie noch? Vorsichtig kroch er noch weiter … und sah, dass Máelsnechtai kniete!
Fast lautlos hing Lazarus neben ihm. »Was tut er da?«, wisperte er. Nial kämpfte gegen die Schmerzen, die in seine zerschnittene Brust zurückkehrten, als er sich niederkauerte, vielleicht auch, weil er den Verursacher erkannte. Der Bruder kniete reglos, so viel verriet der wolkenlose Nachthimmel. Das Schwert lag in der Scheide vor ihm. Hatte er sie getötet?
Nial atmete tief durch.
»Du kannst ruhig näher kommen, du verdammter Narr«, knurrte der Mórmaer da. »Ich habe dich gehört. Deine Kutte raschelt so laut, dass der Papst wach werden würde.«
Ärger stieß sich wie ein Dolch in Nials Herz, und er hasste sich dafür, dass Máelsnechtai ihn nach all den Jahren der Kontemplation immer noch so provozieren konnte.
»Was hast du mit ihr gemacht?«, stieß er hervor und erhob sich mühsam.
»Nichts«, kam es zurück.
»Wo ist sie dann?«
»Knie dich hin und bete«, grunzte der Bruder. »Das gab sie mir als Aufgabe. Warum sollte es für dich dann anders sein? Ich nehme an, beten kannst du inzwischen wohl.«
Und zu Nials größtem Erstaunen rückte er zur Seite, als machte er in einer Gebetsbank Platz, und lud ihn zum Knien ein, statt die Faust gegen ihn zu erheben. Nial zögerte. Sein Bruder drehte sich um, und die Nacht ließ sein Gesicht weiß schimmern. Er las einen nie gekannten Frieden in dem Gesicht. Und so überwand er die letzten Schritte, die ihn von dem Mann trennten, der ihn vor wenigen Tagen noch hatte töten wollen, und kniete neben ihm nieder.
»Sie ist da drin, und sie hat mir verboten, ihr zu folgen«, erklärte der Mórmaer. »Deswegen wirst du auch hierbleiben. Und beten, wie sie es gesagt hat. Du kannst das besser als ich.«
Die Verse der Komplet lagen hinter ihr. Manche von ihnen kamen noch einmal zurück, um mit ihr in der Stille zu warten. » Quoniam tu es, Domine, refugium meum. Altissimum posuisti habitaculum tuum. Non accedet ad te malum, et flagellum non appropinquabit tabernaculo tuo .«
Anfangs hatte sie gefroren, doch auch das lag hinter ihr. Eine Komplet wie diese hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesprochen. Die Jahre im Kloster lösten sich in Bedeutungslosigkeit auf, weil es niemals um etwas gegangen war. Zum ersten Mal ging es um ein Leben, und jedes Wort gewann an Gewicht, wurde zu einer göttlichen Formel, deren Gesamtheit Margarets Leben würde retten können … wenn sie nur stark genug war.
Nichts prallte mehr an ihr ab, Leben durchfloss sie, ohne dass es durch irgendetwas aufgehalten oder gestört wurde – sie war ein dahingleitender Fluss, das Gebet hatte sie eins werden lassen mit der Kälte, dem Wind, dem Boden …
Die Wolken schoben sich auseinander. Der Vollmond warf sein Licht in die Ruine und färbte die Mauern so grau glänzend wie polierte Waffen. Und sie schienen immer näher zusammenzurücken, um das Gefängnis zu verkleinern, in das die Ruine von Jarrow sich verwandelt hatte. Christina blieb ruhig. Ihre Zuversicht hielt sie aufrecht und geduldig.
Der alte Mönch kam aus dem Dunkel herangeschlurft. Sie schaute ihm zu, wie er unter gemurmelten Gebeten den großen Granitblock dekorierte, der offenbar einmal als Altar gedient hatte – eine Schale Weihwasser erkannte sie, Kerzen, ein Kohlebecken … Das Buch glänzte erwartungsvoll, als er es in die Mitte legte. Dann drehte er sich zu ihr um, und sie fragte sich ein letztes Mal, wie er sie ohne Augen finden konnte.
»Ein Kampf liegt hinter mir, Mädchen. Ein Kampf darüber, ob das Leben einer Königin das Leben meiner Mitbrüder aufwiegt.« Er kam näher. Ihr Herz klopfte, aber sie schwieg. Es war deutlich zu spüren, dass er immer noch haderte und die Rachsucht ihn nicht verlassen hatte. »Das tut es vielleicht nicht – aber dass du den weiten Weg gegangen bist, um für ihr Leben zu bitten …« Er trat vor sie, und die weißen Augenhöhlen schimmerten. »Das stimmt mein Herz so milde. Vielleicht bringst du Frieden in diese zerstörte Kirche und Frieden über die ermordeten Seelen.«
Christina kniete sich vor ihn hin. »Ich will alles tun, was Ihr sagt, Vater.«
Seine Hand schwebte über ihr, dann legte sie sich auf ihren Kopf – und sie wog schwer, so schwer wie das Leid, welches das Herz des alten Mönchs verzehrte.
»Noch niemals habe ich gehört, dass man einen Fluch ungeschehen machen kann«, sagte er leise. »Aber du scheinst mir stark genug zu sein, dass
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