Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
wir es versuchen können.«
»Ja«, flüsterte sie. »Das will ich sein.«
»Bist du also bereit?«, fragte er. »Bist du bereit, deine unschuldige Seele in den Kampf ziehen zu lassen? Ich kann dir nicht beistehen – ich kann dir nur den Weg weisen. Kämpfen musst du alleine, Mädchen. Deine Waffe sei deine Unschuld.«
Bebend berührte seine gichtige Altmännerhand ihr Gesicht, und sie staunte, wie warm die Finger waren und wie glatt sich die Haut anfühlte – und dass sie das überhaupt fühlte, wo doch ihr eigener Körper in Auflösung begriffen schien.
»Ich bin bereit«, flüsterte sie. »Zeigt mir den Weg, Vater …«
Und er führte sie zum Altar, wo Kerzen warmes Licht über den polierten Stein warfen. Allerdings zeigten sie auch gnadenlos die Kerben, welche die schottischen Klingen einst in den Stein geschnitten hatten … Das Stundenbuch verdeckte die Kerben nur halb, und ja, es gehörte zu ihnen, sie hatten dem Fluch den Weg geebnet, hatten dem Alten die Worte in den Mund gelegt und den Hass in sein Herz gesät.
Langsam öffnete der Klosterhüter das goldene Buch. Er streute Weihrauchkrümel über die Seiten, die sich ihm stöhnend entgegenwölbten. Vielleicht war es auch nur der Nachtwind …? Der Alte gab Weihrauch in das Kohlebecken. »Erhebe dich, heiliger Rauch, und reinige die Luft für das, was wir nun vorhaben!«, rief er. »Erhebe dich und mache uns stark für die Prüfung, die uns bevorsteht! Erhebe dich – reinige –, stärke im Namen des Dreifaltigen Gottes, in dessen Hand wir uns begeben …«
In dicken Wolken umtanzte das verbrannte Harz Christinas Kopf, als ahnte es, dass sie es war, die seines Schutzes bedurfte. Es drang in jede Pore und in jedes Haar und umschloss sie wie ein Schutzschild gegen das Böse, was bereits unter den Buchseiten lauerte und sie blähte, wie damals in der Kathedrale von Dunfermline, kurz bevor die Reiter der Apokalypse sich aus den Seiten befreit und sich ihr zum ersten Mal gezeigt hatten.
Schließt das Buch!, wollte sie dem alten Mönch schon zurufen. Doch sie hatte ihm ja versprochen, sich seiner Leitung anzuvertrauen – er würde schon wissen, was er tat. Und so ließ sie geschehen, dass schwarzer Rauch zwischen den Seiten hervorquoll und die Luft verpestete, dass sich ein See aus Blut aus der linken Buchhälfte über den Altar ergoss und von dort auf den Boden tropfte, es aber nicht nach Blut roch, sondern süß wie der frische Tod, der seinen Arm wie ein Lesezeichen aus dem hinteren Teil des Buches streckte und mit bleichen Fingern nach ihr suchte.
» Adiuva me, Domine Deus meus, salvum me fac secundum misericordiam tuam. Et sciant quia manus tua haec: tu, Domine, hoc fecisti «, betete Christina erschaudernd und hielt sich an den Psalmworten fest. » Maledicant illi, et tu benedicas; qui insurgunt in me, confundantur, servus autem tuus laetabitur …«
Dann gab es einen Knall, das Buch zerplatzte in tausend Seiten, und der Fahle stand auf dem Altar. Seine riesigen Hufe zertraten Kerzen und Buchseiten, die Weihrauchschale flog durch die Luft, und er schnaufte wie ein Bulle, als er Christina vor sich knien sah.
Jetzt ist es genug!, donnerte die hohle Stimme durch die Ruine, jetzt wollen wir abrechnen! Und der Fahle stieg, sein Schweif peitschte um den Altar herum und fegte den alten Mönch zu Boden. Christina trafen die Haare im Gesicht – kaum fühlte sie, wie ihr Blut über die Wangen rann, denn eisiger Wind ließ die Haut erstarren.
Nicht ein einziges Mal hatte der Fahle sie angegriffen, seit sie das Buch bei sich trug. Stets hatte er sie bedroht und umkreist, doch niemals hatte er sie berührt. Es war, als schützte sie etwas vor ihm, und sie hatte seinen unbändigen Zorn darüber stets gespürt.
Diesmal war das anders. Diesmal wusste sie ihr Leben in tödlicher Gefahr, und sie suchte nach Mut. Sie würde ihn brauchen …
» Induantur, qui detrahunt mihi, pudore et operiantur sicut diploide confusione sua «, betete sie, nun zitternd, denn der Alte rührte sich nicht mehr. War er tot? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit einem Riesensatz sprang der Fahle vom Altar herunter. Das Klappern warf ein schauerliches Echo durch die Ruine. Ein Huftritt schleuderte sie beiseite, dann stieg er wieder und ließ seine Hufe mit Wucht auf ihre Brust niedersausen, dass ihr die Luft wegblieb.
Zahltag!, lärmte Er. Zahltag, her mit deiner Seele, kleiner Mensch!
» Adiuva me, Domine Deus …! «, schrie Christina gequält. Zahltag!, höhnte ihr
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