Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Sie drehte sich um und ließ mit leisen Schritten den versperrten Eingang hinter sich. Vor ihr lag die zerstörte Kathedrale, in der es kein Licht gab, weil der, der die Ruinen hütete, sich in den Tüchern der Dunkelheit mühelos zurechtfand. Er fand sie auch jetzt, kam von irgendwoher angeschlichen, tastete zielsicher nach ihrem Arm und führte sie zu einer Stelle, wo sie vorher nicht gewesen war, das verrieten ihre empfindsamen Füße.
»Nun höre auch den Rest, Mädchen«, sagte der alte Mann. »Ich sehe, du willst wirklich hierbleiben. Höre also, wie es weiterging. Lass dir erzählen, wie es war, hier zu liegen, am Altar meiner Kirche, neben meinen toten Brüdern. Jeden Einzelnen von ihnen sah ich sterben, und jeden anders. Dem einen schlitzten sie den Bauch auf, dem nächsten rissen sie die Arme ab, einer wurde geköpft, ein anderer von Lanzen durchbohrt. Einen nagelten sie auf ein Brett und hängten ihn kopfüber. Ich war der Letzte von ihnen, und meine Marter war, bei alldem zuzuschauen, bevor sie mir das Augenlicht nahmen …« Er schwankte stöhnend und wanderte ein paar Schritte umher. Christina ahnte, was er nun berichten würde und dass sie es anhören musste, weil es der Schlüssel zu allem war. Beinah tröstend rieb die Milchziege den Kopf an ihrem Bein. Ein Licht hätte ihr die Aufgabe erleichtert, doch Christina musste dem Alten im Dunkeln lauschen.
»Sie verwandelten unsere Kirche in ein Schlachtfeld. Blut strömte über den Boden, wie es nur Barbaren vergießen können …«
»Aber König Malcolm ist doch getauft«, flüsterte Christina, fassungslos darüber, welches Monstrum Margaret da geheiratet hatte!
Der Alte lachte hart auf. »Das Taufwasser ändert nichts an einer barbarischen Seele, Mädchen. Der Täufling, der Gott nicht wirklich sucht, bleibt ein Barbar, ganz gleich, wie oft man ihn untertaucht. Nun aber höre, wie es weiterging. Ihr Tun hatte sie so erschöpft, dass sie Hunger bekamen. Und loszogen, unser Küchenhaus zu plündern.« Der Alte wanderte umher, alle paar Schritte kam seine brüchige Stimme von woanders her. Flog er?
»Einige meiner Brüder stöhnten noch, die meisten waren tot. Meine Hände befreiten sich von ihren Fesseln – frag mich nicht wie. Ich konnte vorwärtsrobben, vorbei an Bruder Ælfwine, an Bruder Michael, an dem jungen Knut aus dem Land der Dänen. Ihm hatten sie den Leib aufgeschlitzt, er starb so schrecklich langsam. Ich fand die rechten Worte, ihn zu segnen, und er starb schließlich in meinen Armen. Mich floh der Tod. Er floh mich, das war mein Schicksal – am Leben bleiben, alles überleben, Heilige Jungfrau …« Ein Schluchzer unterbrach ihn. »Alles überleben, Mädchen. Ja … das alles überleben und sich daran erinnern. Der allmächtige Vater gab mir die Kraft, an ihnen allen vorbei zum Altar zu kriechen, wo wir in einer verborgenen Öffnung unsere Bibel und das Stundenbuch aufbewahrten.« Er pausierte wieder, dann kam seine Stimme von hinten.
»Die Bibel auf dem Altar hatte ein zotteliger Wilder in das Feuer geworfen, mit dem sie Bruder Ythamar gequält hatten. Das Gebetbuch aber … das lag noch in seinem Versteck.« Laub raschelte, dann hörte sie, wie er etwas aufhob – das Buch. Mondlicht ließ den goldenen Deckel schelmisch aufblitzen. Ja, es ist noch da, immer in deiner Nähe , lachte der Fahle, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Oder entsprang Er nur ihrer Einbildung …?
Ich bin hier. – Hier! – Hier, tanzte seine Stimme durch die Ruine. Hier bin ich …
»Unser wunderschönes Buch … Ich nahm es an mich, Mädchen. Ich kannte es auswendig – ich hatte es ja selbst gefertigt, in all den Jahren, die ich hier in Jarrow lebte. Es ist einzigartig, denn Gott gab mir die Hände, es zu Seinem Lobpreis zu malen …«
»Es ist Euer Werk«, flüsterte Christina. Er lächelte und entblößte seinen zahnlosen Gaumen. Dann verschwand der Mond hinter einer Wolke.
»Es ist mein Werk, ja. Niemand hat je so ein Buch geschaffen. Gott wollte mich wohl für meinen Hochmut strafen, weil ich zu stolz auf mich und mein Werk war.« Er schwieg. Absolute Stille umgab sie, selbst das Rascheln war verklungen. Die Nacht legte sich über die Ruine und erstickte jedes Geräusch.
»Er strafte mich, nahm mir meine Augen, dass ich fortan weder Pinsel noch Farben würde sehen können, niemals wieder malen würde. Und anstatt Demut zu zeigen, ergab ich mich der Rachsucht, Mädchen.« Seine Stimme wurde heiser, die Erlebnisse waren noch so nah. »Ja …
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