Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
ich, den grauen …«
»Tut Er dir etwas zuleide?« Seine Stimme klang heiser.
»Nein. Er bedroht mich, aber er tut mir nichts.«
»Er hat nicht versucht, dich zu verletzen?«
»Ich lasse ihn nicht zu mir, Vater«, flüsterte sie.
Der Alte schwieg lange. Das schimmernde Buch bewegte sich im Rhythmus seines Atmens. Mehr Leben war nicht um sie herum. Christina ergab sich dem Warten, seinem Schweigen, der großen Stille. Alles war gesagt – er allein würde nun entscheiden, was zu tun war. Sie fühlte sich fast erleichtert.
»Bete«, sagte der Alte schließlich. »Bete eine Komplet, dann schweig bis zur Vigil. Ich werde dich wissen lassen, was mir möglich ist …«
Er kam noch einmal zurück und befreite sie aus der vollkommenen Dunkelheit, indem er eine Schale mit zwei glimmenden Torfbrocken hinstellte. Ihr Licht war nicht nur tröstlich, sondern auch warm, und es wärmte ihre eisigen Finger, die sie dankbar darüber hielt. Feiner Sprühregen ließ die Glut ganz leise zischen. Hellrot und senkrecht stieg der Qualm in die Luft, selbst der Wind hatte sich zur Ruhe gelegt und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Das Feuer zeigte ihr diesmal nichts, sosehr sie auch hineinstarrte. Keine Margaret, keinen Malcolm, und in ihrem Herzen herrschte Ruhe, wenn sie an die Kathedrale von Dunfermline dachte. Sie sank auf ihre Unterschenkel und kauerte sich vor das Feuerchen. Es gibt nichts zu berichten, sagte es lautlos. Und zeigte ihr dann doch etwas: zwei Hände, ineinander verschränkt, und die Finger der kleineren Hand verschwanden fast vollständig in der anderen. Es gibt nichts zu berichten … So war es wohl. Sie starrte vor sich hin. Es spielte sowieso keine Rolle mehr, was in Dunfermline geschah – sie hatte ihr Möglichstes getan, den Rest würde nun Gott selbst entscheiden.
Der Alte war lautlos und nun offenbar endgültig verschwunden. Christina rutschte in den modrigen Blättern hin und her, bis sie eine Stelle gefunden hatte, wo sie lange würde knien können. Es lag schon eine Weile zurück, dass sie alleine bis zur Vigil durchgebetet hatte …
» Cum invocarem, exaudivit me Deus iustitiae meae. In tribulatione dilatasti mihi; miserere mei et exaudi orationem meam. Filii hominum, usquequo gravi corde? «, begann sie leise die Verse der Komplet zu beten, wie der Alte ihr aufgetragen hatte. Wie gut es tat, sich in die Worte des Stundengebets hineinzuversenken! » Ut quid diligitis vanitatem et quaeritis mendacium? Et scitote quoniam mirificavit Dominus sanctum suum; Dominus exaudiet, cum clamavero ad eum .«
Sie legten sich wie Freunde in den Mund, schaukelten sie auf starken Armen in einen Rhythmus, der die Furcht besänftigte und Ruhe schenkte, selbst in dieser düsteren Ruine. Gottes Nähe in den Versen half. Nachdem sie sie lange verloren geglaubt hatte, war sie an diesem unheimlichen Ort zu ihr zurückgekommen und würde ihr beistehen, was immer in dieser Nacht noch geschehen würde.
Nial und der Aussätzige lagen im Schutz der Klostermauer. Den Schimmel hatten sie außerhalb der Mauern angebunden; er hatte sofort den Kopf zum Schlaf gesenkt. Es war ein scharfer, kräfteraubender Ritt für ihn gewesen, denn er hatte beide Männer auf dem ganzen Weg nach Jarrow tragen müssen. Sie hatten lange nach einem Fährboot am verlassenen Ufer des Tyne suchen müssen und wären fast gekentert, weil das Pferd außer sich vor Aufregung herumgetrampelt war. Auf den Toten am anderen Ufer hatten bereits die Raben gesessen, und Nial hatte kein Halten mehr gekannt – er hatte das Pferd mit Schlägen vorwärtsgetrieben, um Jarrow noch vor Anbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Und nun herrschte diese gespenstische Stille in der Ruine. Von außen war nicht zu sehen gewesen, ob die Gesuchten das Kloster schon erreicht hatten. Oder ob sie sich verpasst hatten. Nial spähte in die Dunkelheit. Da bewegte sich doch etwas. Ein Schatten. Auf allen vieren kriechend, verließ er den Schutz der Büsche.
»Wo willst du hin, Mann?«, raunte Lazarus und packte ihn am Fuß.
»Schauen, wer dort ist«, flüsterte Nial zurück. »Ich glaube, ich weiß es …«
Er spürte die Anwesenheit eines Kriegers. Roch die ungewaschene Männerhaut, deren Schweiß sich nicht aus Angst, sondern aus Wildheit zusammensetzte – Máelsnechtai. Ohne ihn zu erkennen, wusste er, dass es Máelsnechtai war, der da saß. Er bewegte sich nicht. Aber er war dort. Hungrig. Ungeduldig. Gefährlich. Die Sorge um Christina fiel ihn an wie ein wildes Tier –
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