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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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die Rachsucht in meinem unwürdigen Herzen entließ jene Reiter, auf dass sie Verderben säen bei jenen …«
    »… die das Buch stahlen«, ergänzte Christina atemlos.
    »Rachsucht führte diesmal die Feder, die getränkt mit der Tinte meines Blutes die Worte niederschrieb, Mädchen, Rachsucht schickte die apokalyptischen Reiter los, Verderben zu säen. Doch sie widersetzten sich mir. Sie wollten meinem Befehl nicht folgen. Sie waren an Sündern nicht interessiert, nur reine Seelen wollten sie …« Keuchend hielt er inne. »Nur unschuldige, reine Seelen wollten sie, um Angst und Schrecken ins Unermessliche zu steigern, denn wenn reine Seelen den Teufel erblicken, ist er umso größer. Die Angst der reinen Seelen verbreitet den wahren Schrecken. Und so sandte meine Rachsucht sie aus, reine Seelen einzuschüchtern …«
    »Reine Seelen …«
    »Reine Seelen, Kind …« Er rang nach Luft, als überwältigte ihn die Erinnerung an jene machtvollen Momente, in denen er das Buch mit dem Fluch belegte. Christina versuchte ihn mit ihrer Hand zu erreichen, doch wie ein Geist entfernte er sich von ihr, jedes Mal, wenn sie nach ihm tastete. War er am Ende ein Geist?, dachte sie erschaudernd und versuchte durch das Dunkel zu spähen.
    »Vater? Wo seid Ihr? Sprecht zu mir …«, flüsterte sie mit immer mehr Furcht im Herzen. »Das Leben meiner Schwester steht auf dem Spiel, sie ist eine reine Seele – ich muss wissen, wie ich ihr helfen kann …«
    Stille.
    Sie wurde eingerahmt von langen Atemzügen, von rechts, von links, von über ihr. Sonst nichts, nicht einmal Schritte waren zu hören. Dann ein tiefer Atemzug, wie für eine lange Rede.
    »Wer ist deine Schwester?«, knarrte die Stimme des Alten dicht hinter ihr. So ging wohl sein Spiel – er war der Herr dieser Dunkelheit, und die Rachsucht lebte immer noch bei ihm. Sie musste mitspielen, ob sie wollte oder nicht.
    »Margaret, die Schwester des Edgar Æthling von England.« Und dann gab sie alles preis, ohne zu wissen, ob sie dem alten Klosterhüter wirklich über den Weg trauen konnte, ob er von seiner Rachsucht nicht so zerfressen war, dass er am Ende auch ihr schaden wollte. »Sie ist das Eheweib dessen, der Euer Buch gestohlen hat. Er schenkte es ihr zur Vermählung. Doch die Reiter quälten sie …«
    »Ja, das tun sie«, sagte er ruhig. »Das ist ihre Aufgabe.«
    »Aber meine Schwester ist doch unschuldig!«, unterbrach sie ihn, und wieder war seine Gegenwart nicht mehr zu spüren, wieder war er auf den Schwingen der Stille davongeflogen und hatte sie alleine gelassen. »Vater! Redet mit mir! Lasst mich nicht so stehen!«, rief sie in die Dunkelheit. »Malcolm will sie töten, wenn sie ihm nicht beiwohnt, und sie kann das nicht, weil Eure Reiter sie daran hindern!«
    Die Schwärze vertiefte sich. Dann hörte sie den Fahlen irgendwo lachen. Wenn reine Seelen den Teufel erblicken, ist er umso größer …
    »Ich kann deiner Schwester nicht helfen«, sagte der Alte schließlich von ganz weit hinten, und der Satz ging auf sie nieder wie ein morscher Ast. Er zerbarst in ihrem Kopf in tausend Teile – alles umsonst, der ganze schwere Weg, die Furcht, die Einsamkeit – Beth umsonst gestorben. Nial umsonst verlassen … Margaret verloren. Ihr wurde das Herz so schwer.
    »Nehmt meine Seele, wenn es nötig ist«, sagte sie leise. »Aber erspart meiner geliebten Schwester, für etwas zu büßen, woran sie unschuldig ist.«
    In dicken Tropfen rann die Stille an den moosbewachsenen Steinwänden herab. Von dort aus sickerte sie ins Erdreich und machte es schwer und fett. Mit Stille vollgesogen, trug es sie wie ein weiches Kissen, und ihre Füße verloren beinahe den Halt. So begann es stets, wenn sie sich sammelte, um ihre Hände zu nutzen … Doch hier wollte sie auf dem Boden bleiben, achtgeben, was der Alte vorhatte.
    Obwohl es stockfinster war, schimmerte das Stundenbuch. Er musste es wohl aufgehoben haben, denn es wanderte wie ein geisterhafter Lichtfleck umher. Er hatte es in seinen Händen und kam damit auf Christina zu. Dicht vor ihr blieb er stehen. Sie fühlte die heiße Anwesenheit des Buches, den fauligen Atem des Fahlen im Nacken …
    »Dir ist es ernst«, stellte der Alte fest.
    Sie nickte. Er sah doch sowieso alles, und die Stimme versagte ihr, weil ihr Herz so heftig zu klopfen begann.
    »Beantworte mir zwei Fragen.«
    »Ja«, flüsterte sie mit zugeschnürtem Hals.
    Er kam noch näher. »Kannst du die Reiter sehen?«
    »Ja«, flüsterte sie. »Den einen sehe

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