Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
dem Einschlafen getan hatte – und dann nicht mehr, weil es sie so sehr gepeinigt hatte, dass sie nicht mehr schlafen konnte.
Katalin bewegte sich unruhig. Ihr Gesicht verzog sich, als hätte sie Schmerzen, und sie stammelte vor sich hin. Christina zog sie vorsichtig vom Lager auf ihren Schoß und streichelte ihre schweißfeuchten Haare. »Liebe Katalin, liebe alte Freundin, komm zurück zu mir …«
Die Tür knarrte. Christina sah hoch. Eins der alten Dienstweiber schlurfte herein und brachte den Nachttopf. Statt ihn einfach nur auf den Boden zu setzen und wieder zu verschwinden, hockte sie sich neben Christina und schaute die Sterbende an. Ihr Kopf wackelte ein wenig, und auch die Hand auf ihrem Knie zitterte. Sie musste sehr alt sein.
»Unsere Krieger starben so«, sagte sie urplötzlich und mit starkem dänischem Akzent. »Sie fielen um, mit roten Gesichtern, dann wurden sie blau, und dann gingen sie zu Hel, ohne einen Schwertstreich getan zu haben.«
»Was meinst du?«, flüsterte Christina verwirrt und versuchte der Alten ins Gesicht zu schauen.
»Ich war damals so jung wie Ihr, Mädchen«, sagte sie. »Mein Vater hatte mich auf den Heerzug nach England mitgenommen, weil ich heilkundig war und Wunden schließen konnte. Wir lagerten vor Perth, und es war schwierig, die Stadt zu stürmen, sie war zu gut bewacht. Wir hatten keinen Proviant und hungerten bald. In der zweiten Woche unserer Belagerung öffneten sich auf einmal die Tore, und Knechte trieben mit Säcken beladene Maultiere vor sich her. ›Essen‹, riefen sie, ›hier habt ihr Essen!‹ Unsere hungrigen Krieger fingen die Maultiere ein. Eine Botschaft des schottischen Königs Duncan soll auch dabei gewesen sein, erzählte mein Vater.« Sie schwieg einen Moment. Dann strich sie mit ihrer zitternden Hand über Katalins Arm. »Wir hatten solchen Hunger, Mädchen … In den Säcken befanden sich Trockenfleisch und Brot. Es reichte nicht für alle. Das war meine Rettung.«
Sie befeuchtete sich die trockenen, faltigen Lippen mit der Zunge, das strähnige Haar verdeckte ihr Gesicht. Die Haube hatte sie wohl verloren. »Mein Vater war ein guter Christ und ließ erst seine Krieger essen. Sie starben. Alle nacheinander. Erst wurden ihre Gesichter rot, dann fingen sie an zu zucken und fielen um. Ihre Gesichter wurden blau – und Hel holte sie zu sich.« Sie wandte sich Christina zu.
»Jemand will Euch schaden, Mädchen. König Duncan tötete meinen Vater und nahm mich gefangen – seitdem bin ich am Hof der Schottenkönige. Und ich hörte damals, welches Kraut sie benutzten, um das dänische Heer zu vergiften.«
»Vergiften …?« Christina traute ihren Ohren nicht.
» Völvuauga wird das Leben Eurer Dienerin hinwegraffen. Der Saft der schwarzen Beere tötet jeden, der davon trinkt. Völvuauga hat das Heer meines Vaters dahingerafft, der schottische König war sich nicht zu schade gewesen, das gemeine Gift dem ehrlichen Kampf vorzuziehen. Achtet auf Euch, Mädchen … jemand will Euch schaden …«
Das alte Weib war längst wieder zur Tür hinausgewackelt, da starrte Christina noch fassungslos vor sich hin. Jemand will Euch schaden. War das Gift etwa für sie bestimmt gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern, welches Essen ihnen gereicht worden war und ob Katalin etwas anderes gegessen hatte als sie.
Die regelmäßigen Atemzüge Katalins wirkten einschläfernd. Christina schüttelte den Kopf. Sie wollte wach bleiben, vielleicht ein paar Schritte vor der Kammertür tun, frische Luft schnappen. Sie nahm ihren Schal und den Weinbecher und verließ leise die Kammer. Doch Ruhe fand sie draußen keine – die Hochzeitsgesellschaft hatte sich in Malcolms Kammer begeben, wo nun offenbar die Ehe vollzogen werden sollte. Wie auf einem Jahrmarkt drängten sich die Schotten an der Tür, lachend, flüsternd, sich gegenseitig knuffend, die Königin soll so schön sein, sagt man, habt ihr ihre Brüste gesehen? Während draußen Margarets Brüste besprochen wurden, drangen von innen Fothads heilige Gesänge bruchstückhaft nach draußen.
Es gab kein Halten mehr. Wie hatte sie die Schwester allein lassen können! Christina stellte ihren Becher auf einem Sims ab und schob sich zwischen die Schaulustigen – zum ersten Mal dankbar, dass Gott der Allmächtige sie mit diesem zu klein geratenen Körper gestraft hatte, der es ihr nun erlaubte, an allen vorbeizuschlüpfen.
»Amen!«, hörte man vorne. Christina drängelte sich durch nach Pferd stinkende Mäntel und an
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