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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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ihr gerade noch gefehlt hatte, immer weiter an der Mauer, ganz gleich, wie eisig der Stein in ihre bloße Haut biss. Wenn der Schotte sie einholte, würde sie sich keinen Schritt mehr bewegen können, dafür würde er sorgen … Der Wind übertönte das Geräusch, das ihre Schritte im Schnee verursachten – der Wind war auf ihrer Seite, für dieses Mal.
    Christina drückte das eingeschlagene Buch an sich. Es wog schwer – schwerer als auf dem Weg zur Kirche. Als wollte es sie daran hindern, es fortzutragen. Böse und rachsüchtig verlangte es danach, in die Kirche zurückgebracht zu werden, um dort weiter für Unfrieden zu sorgen. Doch sie konnte an nichts anderes als an ihre Schwester denken, deren Leben das Buch so unerwartet in Gefahr gebracht hatte. Das gab ihr die Kraft, ihre zunehmende Furcht unter Kontrolle zu halten, sich an der sich sanft rundenden Apsis von der Kirchenmauer zu lösen und an den Gräbern vorbei den Weg zum Burghof zu suchen. Máelsnechtais Stimme schien verklungen.
    Christina rannte.
    Niemand sonst war in dieser Nacht unterwegs, nicht einmal die sonst allgegenwärtigen Pferdeburschen hörte man. Niemand wusste von den dramatischen Vorkommnissen in der Kirche, niemand ahnte, dass der König beinah sein Gesicht verloren hatte. Niemand ahnte, dass der Böse einen Weg in die Burg gefunden hatte … diese Bürde wog so schwer auf ihren Schultern!
    Nur der Wind klatschte gelangweilt nassen Schnee an die dicken Mauern. Christina verfehlte er, und er gab sich auch keine Mühe, weiter nach ihr zu zielen. Sie huschte vorwärts, grübelte dabei fieberhaft über ihre nächsten Schritte nach. Jarrow, hatte der Bischof gesagt. Aus Jarrow stammte das Buch. In Jarrow war der Fluch ausgesprochen worden. Also musste das Buch nach Jarrow zurückgebracht werden. Sie blieb stehen.
    Nach Jarrow. Sie musste nach Northumbria. In jenes unwirtliche Land, aus dem sie nach Schottland geflüchtet waren, weil der Eroberer auf dem Weg nach Norden gewesen war … Und ihr würde nicht viel Zeit bleiben. Solange sich Margaret in der Kirche aufhielt, würde Malcolm ihr nichts antun. Doch wie lange würde die Schwester das Beten durchhalten?
    » Hlæfdige , verfügt über mich«, keuchte da jemand hinter ihr. Sie vernahm hastige Schritte im harschen Schnee, das Rascheln eines offenen Mantels, wo keine Zeit mehr gewesen war, ihn zuzubinden. » Hlæfdige! Was auch immer Ihr vorhabt mit diesem Buch – verfügt über mich, ich will bei Euch bleiben und Euch Schutz geben und …«
    »Ruaidrí!« Jetzt hatte sie ihn erkannt! Der Wind drückte sie gegen die Mauer, und Ruaidrí gab ihr Schutz, indem er sich mit ausgebreiteten Mantelenden vor ihr aufbaute. Kurz überlegte sie, wie sinnvoll es war, diesen Schotten, von dem sie nichts wusste, als dass er ihr Treue geschworen hatte, in ihre Pläne einzuweihen, von denen sie selbst erst das Ziel kannte: Jarrow in Northumbria.
    » Hlæfdige , tut nichts Unüberlegtes. Ihr werdet …«
    »Ruaidrí – ich will nach Jarrow«, unterbrach sie ihn, alles Zögern über Bord werfend. »Ich muss nach Jarrow – kennt Ihr den Weg dorthin?«
    Er trat noch einen Schritt näher, und sie roch, dass er Bier getrunken hatte. Sie drückte das Buch gegen ihre Brust. »Kennt Ihr den Weg?«
    »Nach Jarrow.« Er nahm die Arme runter. »Das dachte ich mir schon, als Ihr das Buch nahmt, hlæfdige . Gibt es keinen anderen Ausweg? Muss es Jarrow sein?« Ohne seinen Mantel traf sie der Wind wie eine Peitsche, doch das spielte jetzt keine Rolle. Schnee klebte auf ihren Schultern, lag wie eine Decke über ihrem Haar, versprach sie in den ewigen Schlaf zu wiegen, wenn sie unvorsichtig war, wenn sie Gott versuchte …
    »Es gibt keinen anderen Weg, Ruaidrí. Wollt Ihr mit mir nach Jarrow kommen?« Gespannt betrachtete sie seinen Schatten, lauschte auf seinen Atem. Für einen Moment war ihr Gegenüber ganz still; vermutlich dachte er über die Folgen nach, die eine unerlaubte Reise für ihn haben würde. Vielleicht schlimmere als drei Tage auf dem kalten Turm. Und weil es so still war, vernahm sie die Schritte von links. War denn heute Nacht jedermann auf den Beinen? Angestrengt versuchte sie im Dunkeln zu erkennen, wer sich da näherte, war es Máelsnechtai? Diesem lauten Mann sah es nicht ähnlich, sich anzuschleichen …
    »Ich kann …« Ruaidrí verstummte, und sie war sicher, dass er vor Verlegenheit rot anlief. »Ihr braucht einen warmen Mantel, hlæfdige . Ich besorge Euch einen Mantel. Sicher …«, er

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