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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Altar gekniet und war in Andacht versunken. Niemand wagte sie anzusprechen.
    Christina hockte neben dem Stundenbuch. Das Kribbeln zwischen ihren Fingern verstärkte sich, je länger sie es anschaute. Es wollte geöffnet werden. Es fragte danach. Es drängte. Sie kniete sich gerade hin, ordnete das zerknautschte Kleid zwischen ihren Beinen. Warum war sie so nervös? Mit beiden Händen fuhr sie sich über das Haar, zog eine Strähne lang. Rieb sich die Nase. Das große Edelsteinauge blinkte sie an. Der Verschluss hatte sich geöffnet – von selbst? Oder war er offen gewesen? Nein, sie hatte die Schließe noch in der Königskammer zugedrückt, da war sie sich ganz sicher, die eine Kante war so scharf gewesen, dass sie sich ihr in die Fingerkuppe gesenkt hatte. Jetzt lag die Schließe aufgeklappt über den Goldornamenten, und es gab keinen Grund mehr, den Buchdeckel nicht in die Hand zu nehmen und hochzuheben …
    »Tut es nicht, Kind«, raunte der Bischof hinter ihr. Sie fuhr herum. Seine alten, grauen Augen blickten voller Sorge. »Lasst das Buch geschlossen«, beschwor er sie. Ihr Herz klopfte. Und dann wusste sie mit einem Mal ganz sicher, dass sie Margaret nur würde helfen können, wenn sie das Gleiche wie die Schwester gesehen hatte.
    »Gott schütze Euch, Kind …«, hörte sie noch, als sie mit beiden Händen den Buchdeckel nahm und aufklappte. Die schweren Pergamentseiten darunter blieben liegen. Christina meinte, Ruß zu riechen … Sie zögerte. Dann nahm sie allen Mut zusammen und schlug das Buch in der Mitte auf. Mit einem Mal stieg kalter Nebel hoch, und die Schreie Sterbender gellten an ihr Ohr.
    Geruch von Moder – verwesendem Fleisch – Tod. Ein fahles Pferd mit aufgerissenem Maul, auf den fauligen, spitzen Zähnen ein düster glänzender Eisenzaum. Ein Speer, der in den Flammen aufblinkte, abgrundtief schwarze Augenhöhlen unter einer zerfetzten Kapuze. Ein Hauch von Tod und Verderbnis – Tod …
    Eine eisige Mähne wallte durch die Luft, mit Haaren so scharf wie Messer – sie peitschten umher, trafen sie an der Wange. Gleich darauf loderte Feuer aus den Seiten, und ein rotes Pferd sprang heraus, mit einem Schweif aus Flammen, der ihr die Härchen auf der Hand versengte …
    Und mir ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden …, hallte es furchtbar in ihrem Kopf wieder. »Mir ward Macht gegeben … Macht …
    Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Christina nahm alle Kraft zusammen und schlug den Buchdeckel wieder zu. Ihre Wange brannte.
    »Was habt Ihr gesehen, Kind?«, flüsterte Fothad.
    »Habt Ihr sie nicht gesehen?«, fragte sie aufgeregt.
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf.
    »Die Reiter der Offenbarung«, flüsterte sie zurück. »Heilige Jungfrau, wache über uns …«
    Der Bischof zog ihre Hände vom Buchdeckel. »Haltet Euch fern davon, Mädchen. Jemand muss sie mit einem Fluch entfesselt haben … Schlagt nie wieder dieses Buch auf, hört Ihr!«
    »Nein«, flüsterte sie, »nein … nein … Es bringt Verderben – Es bringt den Tod, hat er gesagt …« Fothads stummes Entsetzen verstärkte ihre Angst, und als er zu beten begann, fasste sie nach seinen gefalteten Händen.
    »Ave Maria, gratia plena, dominus tecum, benedicta tu …«
    Die Kirchentür knallte ins Schloss. Der König war zurückgekehrt. Hart und entschlossen klangen seine Schritte auf den Fliesen, als er auf das schimmernde Buch zustrebte, die Hände ausstreckte und es aufnehmen wollte. Fothad hob abwehrend die Arme.
    » A rìgh , lasst ab von dem Buch …«
    »Was wollt Ihr mir verbieten, Priester? Es gehört mir!«, blaffte Malcolm und wollte sich an ihm vorbei nach dem Buch bücken.
    »Das Buch ist verflucht, a rìgh …«
    Der König stutzte. »Es ist ein ganz normales Buch!« Dann bekam er es zu fassen, doch Fothad stieß ihn, und das Buch fiel zu Boden … öffnete sich …
    »Ein Fluch ruht auf ihm, a rìgh !«
    »Ich sehe keinen Fluch. Ich sehe nur ein Buch, alter Mann!«
    » A rìgh , nur die, die reinen Herzens sind, werden seiner gewahr und in den Abgrund der Verzweiflung gestoßen. Eure Königin. Ihre Schwester. Ich habe Sünden auf mich geladen, ich sehe nichts …«
    »Das ist der größte Unsinn, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe!«, donnerte Malcolm. »Dieses verfluchte Buch soll mich wirklich daran hindern, meiner Frau beizuwohnen? Das habt ihr euch so gedacht, ihr verdammten Angelsachsen!« Und

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