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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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zögerte, »sicher wollt Ihr nicht, dass jemand von Eurer Reise erfährt?« Diese Bemerkung war ungeheuerlich. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Wollte er etwa Geld für sein Schweigen? Nichts weiter kam. Sie drückte das Buch an sich und entschloss sich zu frechem Hochmut. Wenn er sie schon nicht begleiten wollte, so ließ er sich vielleicht einschüchtern. Für den Moment verdrängte sie, dass jemand lauschte.
    »Ich bin sicher, Ihr wisst, warum niemand davon erfahren darf. Ich zähle auf Eure … Treue.«
    Es raschelte im Schnee. Der Schotte war einen Schritt zurückgetreten. » Hlæfdige Christina, ich … Euer Mantel. Wartet am kleinen Tor auf mich. Ich … Euer Mantel …« Dann war er im Dunkel verschwunden, und sie wusste nicht, ob sie ihm würde trauen können.
    Aber sie wartete im Schutz des Torbogens, wie er gesagt hatte. Der Lauscher atmete in der Dunkelheit, kam nicht näher. Und irgendwo hinter der Mauer stand ein Wachposten, dessen Schnarchen sie bis hier hören konnte. Trotzdem bewegte sie sich nicht, verschmolz mit der Mauer, hielt die Luft an. Ruaidrí würde ihr hier heraushelfen, das hatte er versprochen.
    Doch Ruaidrí kam nicht. Ob ihn jemand aufgehalten hatte? Ob er es sich doch noch anders überlegt hatte? Inzwischen fror sie erbärmlich in ihrem dünnen Kleidchen und dem Wollschal. Verführerisch drängte sich der Gedanke in ihren Kopf, ihr Vorhaben abzubrechen. Das Buch wieder in die Kirche zu bringen. Irgendwie würde sich vielleicht alles von selbst regeln. Es zuckte unter ihrem Arm. Ja! Zurück in die Kirche! Zurück …! Es fühlte sich knorrig und hässlich an. Nichts würde sich regeln. Das Buch würde Margarets Leben ruinieren.
    »Nein … ich werde nach Jarrow gehen und den Fluch von dir abstreifen«, flüsterte sie. »Du wirst mich nicht daran hindern – nicht einmal der Teufel selbst!« Da fauchte sogar der Wind und übertönte das leise Knurren unter ihrem Arm. Ich werde närrisch, dachte sie. Ich spreche mit einem Buch – Allmächtiger, hilf mir …
    » Hlæfdige Christina – seid Ihr hier? Ich weiß, dass Ihr hier seid, gebt Euch zu erkennen …«
    Sie fuhr zusammen. Diese Stimme gehörte dem Earl von Northumbria – Morcar. Hatte auch er sie verfolgt? Aber wo war Máelsnechtai? Hatte sie den nicht bei den Gräbern abgehängt? Wo kam Morcar nun her? Sie wusste nicht mehr, vor welchem der beiden Männer sie mehr Angst haben sollte, und drückte sich gegen den Torbogen.
    »Christina. Ich weiß, dass Ihr hier seid.«
    Seine Schritte waren verklungen; anscheinend war er stehen geblieben und lauschte. Ganz leise nur knirschte der Schnee, wie wenn sich jemand um die eigene Achse drehte. Er würde sie fangen. Er hatte Katalin getötet. Er würde sie fangen, fesseln und nehmen, wie er es die ganze Zeit vorgehabt hatte. Sie war die Schwester der Königin, er wollte nach ganz oben. Er hatte Katalin getötet. Wie dicke, eisige Hagelkörner prasselten diese Gedanken in ihrem Kopf. Sie musste ihn loswerden, bevor er alles verdarb. In ihrer Brust verhärtete sich etwas, was sie vorher noch nie gespürt hatte. Loswerden , höhnte das Buch unter ihrem Arm. Der Wind heulte um den Torbogen. Loswerden , lachte jemand höhnisch und blies ihr eisig fauligen Atem ins Gesicht. Erschrocken sah sie sich um, doch da war niemand. Da war nur ein fahler Schatten in der Nacht.
    Morcars Schritte knirschten von der anderen Seite. Sie riss sich los von dem Schatten, Morcar war hinter ihr her. Sie wusste von ihren Wanderungen, wo die kleine Pforte war. Der Wachposten dort schlief immer noch. Sie wusste auch, dass die kleine Zugbrücke über die Schlucht nicht hochgezogen worden war – der fürchterliche Lärm der überalterten Konstruktion war an diesem Abend ausgeblieben, weil den ganzen Tag über Gäste in der Burg ein- und ausgegangen waren. Das Buch in ihren Armen verhielt sich still. Nur der Gestank …
    »Christina?« Er tat einen Schritt.
    Die Fackel flackerte. Die Fackel würde sie verraten. Und dann gab es kein Zögern mehr – Christina sprang aus der Deckung. Mit der einen Hand drückte sie das Buch an sich, mit der anderen angelte sie im Sprung nach der Fackel, riss sie aus der Halterung und schleuderte sie aus dem Torbogen heraus, dorthin, wo sie die Schlucht um die Burg vermutete. Wie ein glühendes Irrlicht segelte die Fackel durch die Luft und fiel an der Zugbrücke vorbei in die Tiefe. Dann war es dunkel im Torbogen.
    Ein amüsiertes Lachen ertönte. »Ihr seid kindisch, Christina.

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