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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Glaubt Ihr denn wirklich, Ihr könnt mir so entkommen?«
    Im nächsten Augenblick stolperte der Earl, rutschte, stürzte schreiend in die Tiefe. Christina blieb wie angewurzelt stehen.
    »Allmächtiger, steh mir bei – was hab ich getan?« Der Schrecken schien ihre Gliedmaßen zu versteinern, keinen Schritt konnte sie mehr tun – er war vor ihren Augen abgestürzt, musste am Geländer ausgeglitten sein …!
    Sein Stöhnen drang aus der Schlucht zu ihr empor. Zu Tode gestürzt hatte er sich nicht oder vielleicht doch? Das hatte sie nicht gewollt – sie hatte ihn doch nur loswerden wollen … Zitternd wich sie von der maroden Brüstung zurück und versuchte rückwärts den Torbogen zu erreichen, der inzwischen vollkommen im Dunkeln lag. Der fahle Schatten glitt durch die Nacht an ihr vorbei. Loswerden, was?, höhnte er und umrundete sie ein weiteres Mal.
    »Wer steht hier rum? Wieso ist es so dunkel hier? Hallo! Wer da?« Die trunkene Stimme veränderte sich, Metall schabte – der Wachposten war hellwach, und dann hatte sie seine Waffe auch schon im Rücken. Er stieß nicht zu, aber die Spitze bohrte sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Sie verschluckte den Schrei, Schreien war schlecht, brachte Männer auf den Gedanken, es ersticken zu wollen.
    »Ich … hab mich verlaufen«, flüsterte sie, am ganzen Körper zitternd. Einzig ihre Arme hatten noch Kraft – Kraft, das Buch zu halten, das verfluchte Buch, weswegen das hier alles geschah …
    »Verlaufen – wer verläuft sich denn aus der Burg heraus? Das kostet Wegezoll«, lachte der Posten. »Warte, ich guck dir ins Gesicht, dann sag ich dir, wie viel es kostet.«
    »Davis, alles in Ordnung, sie gehört zu mir!« Zwei starke Hände zerrten sie aus der Umklammerung des Postens, das Kleid hielt dem nicht stand und riss entzwei. Triumphierend fuhr der Wind in das entstandene Loch, um nackte Haut zu suchen. »Sie gehört zu mir, Davis, alles in Ordnung«, wiederholte Ruaidrí. Schemenhaft sah sie, wie er sich vor dem Wachposten breitmachte, damit sie hinter seinem Rücken verschwinden konnte.
    »Ruaidrí, du? Das ist doch eine von den Angelsachsenprinzessinnen, jetzt erkenn ich ihr vornehmes Kleid – was hast du denn mit der zu schaffen?«, argwöhnte Davis, dem sein nächtlicher Fang zu gefallen schien. »Tust du was mit ihr? Darf ich auch? Wo wirst du es tun? Gleich hier? Ich kann überall und jederzeit …«
    »Ich eskortiere sie …«
    »Hehehe«, grölte der Posten da los, »hehehe, so würde ich das auch nennen, erstkontieren, das ist bestimmt genauso gut, erstkontieren, lass uns das zusammen tun, das Erstkontieren – hehehe, machst du das von vorn oder von hinten …«
    »Halt dein dämliches Maul, ich eskortiere sie, sie ist eine Dame, und deine Tölpelzunge beleidigt sie! Lass uns vorbei und in Frieden, sie hat sich nur verlaufen im Dunkeln …«
    »Sie hat die Fackel in die Schlucht geworfen, Ruaidrí. Das hab ich gesehen«, gackerte der Posten. »Sie wollte sich vielleicht verlaufen – damit ich sie finde. Wie findest du das, Ruaidrí? Damit ich sie finde – und nicht du? Ich kann sie auch erstkontieren …«
    Da holte Ruaidrí unvermittelt aus, Christina konnte gerade noch ausweichen, und dann versetzte er dem Wachposten einen Schlag. Da es gewaltig krachte, hatte er wohl den Kiefer getroffen, und Davis heulte vor Wut auf wie ein Wolf. »Na warte!« Ein weiterer Fausthieb, von wem, war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Hinter ihr knarrte die Brüstung der Zugbrücke, unter der Brücke lag der Earl, von dem man nun nichts mehr hörte. Das Buch schien immer schwerer zu werden. Es wollte nicht getragen werden, es wollte die Burg nicht verlassen.
    Die Prügelei indes nahm kein Ende. Christinas Unruhe wuchs – als Nächstes würde vielleicht Edgar hier auftauchen und sie an ihrem Vorhaben hindern! Der Gedanke an ihren kleinen betrunkenen Bruder wirkte wie ein Tritt, und sie lief los, über die Zugbrücke und hinaus aus der Burg, weg von Ruaidrí, dem sie schon die ganze Zeit misstraute, und von allen anderen, die in der Dunkelheit nur darauf warteten, sich eine Angelsachsenprinzessin zu greifen …
    Auf der anderen Seite der Schlucht waren die Lasttiere in engen Ställen untergebracht. Einmal war sie dort gewesen, vor den rauen Burschen aber schnell wieder geflüchtet. Jetzt würde sie mit einer Münze aus dem Almosenbeutel hoffentlich einen verlässlichen Führer finden. Es gab kein Halten mehr. Mit einem Stoßgebet auf den Lippen lief sie los, über die

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