Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
presste sie fest an sich und trug sie fort von dem hungrigen Wasser. Sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals und bemerkte die Menschen und das Gemurmel erst, als sie sich dem Feuer näherten. Als Hände nach ihr griffen, wehrte sie sich und schlug um sich, und Nial ließ sie an seinem Körper entlang zu Boden gleiten. Auf eine Handbewegung von ihm wichen die anderen zurück.
Ohne ihn entfernte sich die Welt von ihr. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es die Kälte war, die ihr das Bewusstsein zu rauben versuchte, ihre Haut gefühllos machte und ihr eine Haube aus unsichtbarer Watte über den Kopf stülpte. Nial schien das zu wissen, so wie er auch damals am Strand ihren Zustand erkannt hatte. Ohne zu zögern, streifte er ihr die klatschnassen Gewänder über den Kopf und hüllte ihren nackten Leib in Leintücher, die die Frauen ihm reichten.
»Bleib wach, hörst du?«, drang seine Stimme an ihr Ohr, »bleib wach und rede mit mir. Hörst du? Bleib bei mir, alles wird gut. Allmächtiger, großer Gott – strafe uns jetzt nicht, sondern hilf …« Nachdrücklich rubbelte er den rauen Stoff über ihre Haut und hielt sie dabei gleichzeitig so fest, dass sie nicht in die Knie sank. Er rieb ihr psalmenmurmelnd Wärme in die kalten Glieder, bis sie wieder stehen konnte, dann gab es neue wollene Tücher und die Nähe eines Feuers.
Die Frauen hockten in gebührendem Abstand auf der anderen Seite des kleinen Feuers unter behelfsmäßigen Zelten, die den Schnee nur mangelhaft abhielten. Ein Junge war damit beschäftigt, die Schneeschicht von den Planen herunterzukehren. Das tat er mit großer Ernsthaftigkeit und mit bloßen Händen, weil es kein Hilfsmittel gab. Jemand reichte ihr ein dampfendes Gefäß. Nial, der sich hinter sie gesetzt hatte, um sie mit seinem Körper vor dem Wind zu schützen, nahm es für sie entgegen und schob es zwischen ihre klammen Hände. So wärmte der Becher ihre Hände von innen, von außen taten es seine Hände. Erschöpft legte sie den Kopf zurück an seine Schulter.
»Wo bin ich?«, fragte sie leise. Die Erinnerung kam auf ganz leisen Sohlen zu ihr zurück.
»Das ist das Pilgerlager«, drang seine Stimme an ihr Ohr. »Sie warten auf einen Fährmann, der sie für wenig Geld über den Forth nimmt. Dann sind es noch zwei Tagesreisen nach St. Andrews, wohin sie für die Vergebung ihrer Sünden wandern. Manche hier haben gar kein Geld und müssen sich die Überfahrt erbetteln. Ich bringe ihnen Essen, wenn ich welches finde. Manchmal kann ich die Fährleute überreden, einen Pilger ohne Entgelt mitzunehmen. Und manchmal finde ich Pilger …«
Seine Arme umgaben sie wie ein Mantel, die Stimme tropfte warm an ihr herab, rann über ihre Haut, und es spielte keine Rolle mehr, was sie sagte, nur dass sie etwas sagte. Die Pilger interessierten sie nicht, sie war viel zu müde, sich mit den neugierigen Blicken zu befassen. Der Inhalt des heißen Bechers entpuppte sich als erhitzter Met, nur ein paar Schlucke, weil das Getränk kostbarer als Gold war, aber sie durchdrangen ihre Glieder und weckten ihre Lebensgeister. Sie verdrängte, wo und bei wem sie sich befand und dass Nial ein c uldee war, und kuschelte sich stattdessen ungeniert noch tiefer in seine Arme. Und er wich keinen Zoll von ihr.
»Was hat Gott mit uns vor, dass er dich mir zum zweiten Mal schickt, Christina?«, flüsterte er. »Will Er uns auf die Probe stellen – will Er mich auf die Probe …« Sie spürte, wie sein Herz vor Verlangen hart gegen ihren Rücken schlug – ihr Rücken war die Trommelhaut, sein Herz der Schlegel, und sie schob sich immer dichter an ihn heran, weil dieser Rhythmus so guttat … Niemand im Kloster hatte sie darauf vorbereitet, was ein Männerherz mit ihr anstellen würde!
»Bruder Nial – was tun wir mit dem Mann?« Die Stimme klang besorgt und jung, einer der wenigen jungen Männer im Lager kam näher. »Wir können ihn nicht hier liegen lassen, man wird uns verdächtigen.«
»Wir bereiten ihm ein Grab, John. Er war ein wackerer Mann, bis die Gier ihn auf den falschen Weg lockte. Er verdient ein Grab. Komm, ich zeige dir, wo du anfangen kannst.« Seine Stimme nutzte ihre Brust als Resonanzkörper; selig lächelte sie über das Gefühl, die Stimme in ihrer Brust zu spüren … doch nicht lange. Dann war er nämlich fort, hatte sich hastig aus der unziemlichen Zweisamkeit gelöst, um ein Grab zu schaufeln. Christinas Gedanken flogen ihm hinterher.
Sie umhüllten ihn in seiner Fassungslosigkeit,
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