Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Königin!«
»Und ich bin der Heilige Vater«, lachte der Fährmann spöttisch auf. Dann verlor er offenbar die Lust an Späßen, denn er packte sie am Mantel, zerrte sie von der Bank und schüttelte sie. »Gib’s her – Dirne!«
Sie wehrte sich mit beiden Händen, riss an seinen Armen, fuhr ihm mit den Nägeln durch das Gesicht, dass er aufbrüllte – dann polterte das Buch endgültig auf den Boden des Kahns. Triumphierend deutete die Laterne auf ihren goldenen Fund – und der Fährmann lachte wieder.
»Da ist es ja.«
Dann ging alles ganz schnell. Christina fühlte seinen Griff im Nacken, und die Reling bohrte sich hart in ihre Seite. Das Wasser griff nach ihr, mit schwarzen, eiskalten Händen zog es sie an ihrem Mantel in die Tiefe. Sanft betäubte es sie mit seiner unergründlichen Kälte und umfing sie, dass kein Seeungeheuer in ihre Nähe kam. Christina wollte schreien, doch das Wasser verschloss ihr den Mund – nicht schreien, ruhig bleiben, ruhig bleiben …
Aber das kannte sie schon. Genauso war es gewesen, als der Sturm damals ihr Schiff zerschmettert hatte. Sie kannte es, alles war leicht und sanft. Es gab keine Gedanken mehr. Selbst das Pfeifen in ihren Ohren war verklungen. Nichts als Stille …
Dann gab es einen schmerzhaften Ruck, ihr wurde fast der Arm aus der Schulter gerissen, und die Leichtigkeit um sie herum war verloren. Sie kämpfte gegen Angst, Wassermassen und Luftnot – Luft – Luft – Luft!
Das Seil um ihr Handgelenk zog sich unerbittlich fest. Es weigerte sich, sie dem Wasser zu überlassen, erwies sich als ebenbürtiger Gegner gegen das eisige Element. Es hielt sie fest – und weckte sie durch den Schmerz aus der Lethargie der Todesnähe. Leben kam über sie, weil ihre Brust unter der Luftnot beinah zerbarst, sie strampelte gegen die Panik an, die sie zu lähmen drohte.
Es gelang ihr, mit der anderen Hand nach dem Seil zu greifen. Von unten zog der Mantel und würgte sie – sie riss das Band am Hals entzwei, und er glitt mit einem sanften Adieu an ihr vorbei und fort. Ihre Schulter brannte wie Feuer, weil in einem merkwürdigen Rhythmus an ihr gezerrt wurde. Der Schmerz gab ihr schließlich die Kraft, das Seil erneut zu packen und sich daran hochzuziehen, Stück für Stück, erst gegen den Rhythmus, dann mit ihm zusammen, ohne zu wissen, wo die Wasseroberfläche war, nur voller Hoffnung, irgendwo da oben Luft holen zu können. Dass das Seil nicht lang war, rettete ihr das Leben. Unerwartet brach ihr Kopf durch die Wasseroberfläche, sie rang ein paar Mal nach Luft, bevor ihr eine Welle ins Gesicht schlug. Der Mann am Ruder zog das Boot mit kraftvollen Zügen vorwärts, und mit jedem Ruderschlag straffte sich das Seil und zerrte sie mit. Der Mann, der sie über Bord geworfen hatte. Das konnte sie noch denken, bevor sie im Kielwasser des Bootes wieder untertauchte und erneut gegen die Strömung ankämpfte. Beim nächsten Auftauchen hatte sie begriffen, worum es ging: das Seil mit beiden Händen packen, den Abstand zum Bootskiel verringern – mit dem Kopf über der Wasseroberfläche bleiben. Atmen. Atmen. Atmen …
SECHSTES KAPITEL
Fällt ihrer einer so hilft ihm sein Gesell auf.
Weh dem, der allein ist!
Wenn er fällt, so ist keiner da, der ihm aufhelfe.
Auch wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich;
wie kann ein einzelner warm werden?
(Prediger Salomo 4,10-11)
W er da? Ach, du bist es …«
Nial erkannte das Boot des Fährmanns von Dunfermline. Er lief darauf zu und ins Wasser hinein und griff nach der Spitze des Bootes, um es auf den Sand zu ziehen. Dafür, dass nur ein Mann darin saß, war das Boot ganz schön schwer, fand er und fragte sich, was der Kerl wohl geladen hatte. Vor allem um diese ungewöhnliche Zeit. Niemand überquerte den Forth mitten in der Nacht, das war viel zu gefährlich. Für die Überfahrt musste es einen wirklich triftigen Grund geben. Nial hatte wie so oft nicht schlafen können und war nun neugierig auf die Geschichte des Ankömmlings.
»Was tust du um diese Zeit auf dem Forth?«, fragte er. »Dermot? Das bist doch du? Ich habe dich noch nie so spät ohne Fahrgast hier gesehen … ist in Dunfermline etwas vorgefallen …?« Merkwürdig. Der Bootsmann war so still. Nial blieb stehen und drehte sich um. »Dermot?«
Jetzt bewegte sich der dunkle Schatten im Boot und stieg endlich aus. »Ich muss was erledigen«, murmelte der Fährmann, ohne Miene zu machen, das Boot hochzuziehen. »Ich muss was …«
»Was musst du? Hilf mir doch,
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