Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
eiskalt. Sie hatte vergessen, wie weit es von einem Ufer zum anderen war. Wie viele Paternoster hatte sie seinerzeit gebetet? Hatte sie? Oder hatte Margaret für sie gebetet? Nein, sie hatte ganz alleine da gesessen … Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen? Und ihre Schwester allein in der Kathedrale, nur mit diesem … König, der ihr an Leib und Leben wollte … das Buch, Margarets Ohnmacht … Magensaft stieg ihr die Speiseröhre hinauf. Mühsam schluckte sie das eklige Zeug wieder hinunter und kauerte sich zusammen. Ihre Hände suchten Beschäftigung, sie waren es so müde, das Bündel festzuhalten. Und sie würden noch lange festhalten müssen. Christina hatte keine Ahnung, wie weit es bis Jarrow war.
Mit der Rechten fuhr sie über die Netze, fand das Seil. Es fühlte sich vertrauenerweckend an, wenn man es umfasste. Vorsichtig zog sie es unter ihr Bündel, um es einfach zu berühren. Es schmiegte sich in ihre Hand. Sie schob sich das Bündel halb unter den Arm, nahm die andere Hand zu Hilfe, formte eine Schlinge aus dem Seil, löste sie wieder auf. Formte eine neue Schlinge, drehte sie hin und her. Das half tatsächlich ein bisschen gegen den Brechreiz und vertrieb die Angst. Hin und her. Auflösen. Neu knüpfen. Hin und her …
»Dort habe ich das Seeungeheuer besiegt. Dort bei dem Felsen – seht Ihr ihn?«, hub der Fährmann an zu sprechen. Sie fuhr zusammen. Seine tiefe Stimme durchbrach das leise Plätschern der Wellen und störte das Netz ihrer Gedanken, in welches sie sich mühsam hineingewoben hatte. Statt nach dem Felsen zu suchen, schob sie sich die Schlinge um das Handgelenk und hielt beides fest. Das war, als ob jemand sie festhielt, ihr Halt gab. Es fühlte sich gut an. Bebend atmete sie tief durch. Wo lag nur das Ufer …?
Der Wind frischte auf, je weiter sie in den Forth hineinruderten. Woher wusste so ein Fährmann im Dunkel den Weg?
Er wusste ihn einfach. Ein Feuer am anderen Ufer zeigte ihm den Weg selbst durch das Schneegestöber, das erkannte sie. Hin und wieder drehte er sich nach dem Feuer um, hielt den Kurs bei, ließ die Ruder gleichmäßig und ohne Pause auf das Wasser klatschen.
Der Schnee wehte jetzt von vorn, direkt in ihr Gesicht. Sie hätte sich gerne in die Leinwandstapel gekauert, doch wagte sie nicht einmal, auf der Bank zu rutschen, aus Angst, sich vor lauter Schwanken erbrechen zu müssen. Das Seil gab Halt. Und so zog sie nur den Mantel dichter um sich herum. Dabei rutschte das schwere Bündel mit dem Stundenbuch zwischen ihre Beine und öffnete sich. Vorwitzig warf der schmale Mond sein Licht auf das Gold …
»Was habt Ihr da?« Die Ruder lagen still. »Was habt Ihr denn da Feines unter Euren Röcken, Mädchen? Ihr wolltet mich mit kleiner Münze abspeisen? Und verbergt das Gold?« Er lachte so laut, dass der Kahn wie eine Kinderwiege hin und her schwang, aber mit seinem breiten Hinterteil saß der Fährmann sicher auf den Netzen. »Ihr wolltet mich ernsthaft mit kleiner Münze abspeisen. Ihr entzückende Närrin. Nun gebt mir den Rest Eurer goldenen Münzen – hier ist Zahlstation.« Erwartungsvoll streckte er beide Hände aus, in die sie ihm wohl das Buch legen sollte. Sie presste die Knie zusammen. Das Buch verschwand zwischen den Röcken und machte sich klein, um nicht entdeckt zu werden.
»Du hast genug bekommen!«
»Mädchen – ich versteh mich nicht auf schöne Worte. Gib mir das goldene Ding, dann rudere ich dich ans Ufer«, sagte der Mann und hörte auf zu lachen. Für kurze Zeit war es ganz still. Selbst der Wind wartete gespannt, was als Nächstes geschah. Die Wellen flüsterten von Gefahr. Leise klopften sie an die Bootswand – Gefahr! Schrill gellte der Ton in ihren Ohren, bohrte sich durch den Kiefer.
»Ich hab dich bezahlt«, flüsterte Christina eingeschüchtert, »ich hab dich bezahlt, warum willst du noch mehr?« Ihr Herz klopfte, furchtsam schaute sie sich um, das Ufer schien noch so weit entfernt …
»Es gibt neue Preise. Wegen der Seeungeheuer.« Damit stand er auf und riss an ihrem Mantel. Das Boot schwankte. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, klammerte sich an die Bank. Das Buch rutschte tiefer zwischen ihre Beine. Der Fährmann zerrte an ihr. »Gib her. Mach keine Zicken, gib es her, Sachsendirne …«
»Bist du närrisch geworden?«, schrie Christina auf, als das Boot sich gefährlich zur Seite neigte, und schlug nach ihm, empört, entsetzt, atemlos. »Hör auf, wie kannst du es wagen! Ich bin die Schwester deiner
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