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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Decken und legte ihre Hand auf seine hohe rasierte Stirn. Er schluckte hart, kämpfte gegen das Beben an. Sie nahm die Hand wieder fort.
    »Er …« Sie räusperte sich, holte Luft. »Er hat gestohlen, Nial. Er hat mir etwas gestohlen, und er hat mich … er hat mich aus dem Boot ins Wasser geworfen …«
    »Gehört dir das Buch, Christina?«, fragte er kopfschüttelnd – war sie wirr im Kopf geworden? »Warum reist du mitten in der Nacht mit so einem Buch über den Forth?« Er umfasste ihr Kinn, vielleicht ein wenig zu hart. »Sag mir die Wahrheit, Mädchen. Ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir. Sag mir die Wahrheit.«
    Er erkannte die Furcht in ihren Augen, für eine Diebin gehalten zu werden. War sie eine? Hatte er sich etwa getäuscht? War sie nur eine weitere gestrandete Sünderin in diesem Lager voller merkwürdiger Lebensgeschichten, auf der Suche nach Vergebung, nach Vergessen oder auf der Flucht vor ihren Erinnerungen? Er war ja auch nur einer von ihnen, und dabei glaubten sie, dass er ihnen den Weg zu Gottes Vergebung weisen konnte – ach, was wussten sie schon von ihm und seiner Geschichte …
    Aber es war ganz anders. »Hast du das Buch aufgeschlagen?«, fragte sie aufgeregt. »Hast du hineingeschaut, Nial?« Sie richtete sich auf, setzte sich hin und rückte von ihm ab, wohl weil sie seine Zweifel an ihr spürte und ihm jetzt offensichtlich nicht mehr nahe sein wollte. »Dieses Buch ist verflucht, Nial …«
    Er betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Sie redete tatsächlich wirres Zeug, Allmächtiger … »Es ist ein Stundenbuch, Christina. Nur ein Stundenbuch.«
    »Es ist verflucht«, wiederholte sie. »Meine Schwester hat hineingesehen und ist fast gestorben! Ich hab den Fluch auch gesehen! Nun will der König sie töten, weil sie ihm nicht beiwohnen kann …«
    Das klang so unglaublich, und ihre Aufregung war so echt, dass sein Herz nun aus Angst um sie zu klopfen begann. Er schüttelte sie sanft. »Mädchen, was redest du da? Das Wasser hat dich krank gemacht, du brauchst Ruhe. Schlaf dich aus …«
    »Nein, ich muss aufbrechen, ich muss weiter, Margarets Leben ist in Gefahr!« Mit einem Ruck versuchte sie sich aus den Decken zu befreien, weil die Unruhe und das Entsetzen offenbar unerträglich wurden. Sie zappelte wild herum, und Nial nahm sie einfach in die Arme und hielt sie fest – es spielte keine Rolle mehr, was die Pilgerinnen glaubten und worüber jetzt hinter den Zeltplanen getuschelt wurde.
    »Gott hat dich mir zum dritten Mal geschickt«, flüsterte er, »das kann kein Zufall sein. Er hat dich mir anvertraut, und so soll es sein. Erzähl mir alles, vertrau mir und lass dir helfen, Christina. Gott hat das so für uns bestimmt – er hätte dich mir doch sonst nicht geschickt …« Dass es auch eine Prüfung für ihn sein könnte, wies er von sich. Er würde diese Prüfung nicht bestehen, das wusste er jetzt schon. Er war viel zu schwach.
    Nial hatte es tatsächlich geschafft, dass sie ruhig liegen blieb, nachdem er die Geschichte von dem Stundenbuch nun kannte. Zusammen mit einem Jungen hatte er sich aufgemacht, die Leiche vom Wasser wegzuziehen und in das geschaufelte Grab zu legen. Damit der Fluss den Toten aus seinem Sandbett nicht freiwusch, häuften sie Steine auf das Grab. Sie hörte die beiden irgendwo reden, hörte Steine klackern, den Jungen unter deren Last stöhnen. Die Wellen des Forth plätscherten fade Neuigkeiten an Land. Bis zum Morgen war es noch so lang – und Christina hellwach, wie sollte sie das aushalten? Er hatte ihr befohlen, am Feuer zu bleiben, obwohl alles in ihr danach rief, jetzt aufzuspringen, das Buch zu nehmen und loszulaufen – um Margaret aus ihrer Kirchenfalle zu befreien.
    Margaret … Sie stützte sich auf den Ellbogen und starrte in die Flammen. Margaret …
    Die Flammen teilten sich. Sie bildeten zwei schlanke Säulen aus gelber Hitze, in deren Mitte sich ein Bild manifestierte … Christina rieb sich die Augen. Ganz deutlich sprach das Bild zu ihr. Im Licht einer Tranlampe sah sie Margaret vor einem Altar knien. Ihr langes Haar floss wie ein Wasserfall über ihren Rücken, das Tuch, welches ihr Haar normalerweise bedeckte, lag auf dem Boden. Neben ihr kniete eine große Gestalt mit breiten Schultern. Malcolm.
    Ein Reisigstück erlag den Flammen. Es brach und zerstob zu Asche, und die Feuersäulen vereinigten sich wieder zu einer goldenen Einheit. Das Bild war verschwunden. Sie starrte in die grellen Flammen, bis ihr die Augen wehtaten.

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