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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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nächtliche Tau vom müden Winterlaub aufflog und in tausend Tropfen zerstob. Máelsnechtai fuhr herum, das Schwert folgte ihm willig, sie zu suchen, ihrem Schrei nachzugehen, die Rechnung war ja aufgegangen. Blitzschnell rollte Nial sich unter der Waffe durch den Sand, kroch vorwärts, warf sich in die Arme der Dunkelheit, während sein Bruder hinter ihm vor Wut aufbrüllte.
    Die starre Nacht bewegte sich, wurde lebendig. Schritte, Atemzüge, Hasten war um ihn herum, er wurde weitergereicht, von Hand zu Hand gegeben, hierhin, dorthin, ein Mantel über seine Schulter geworfen, ein Tuch über seinen Kopf, damit die weiße Gesichtshaut ihn nicht verriet. »Gott schütze Euch, Bruder Nial«, und sie schoben ihn hinter die Lumpen und durch ein Zelt hindurch, während hinter ihm stummes Füßescharren einsetzte, über das Máelsnechtais Stimme wie ein Fürst zu herrschen versuchte – doch hatte sie ja keine Untertanen. Das Scharren mündete in Murmeln, in Klang, in die Antwort von Sündern auf dem Weg zu Vergebung, die keine weitere Sünde in ihrer Nähe dulden würden.
    Der Klang formte sich zu kraftvollen Worten. » Nam et si ambulavero in valle umbrae mortis «, sang es aus unzähligen Kehlen, » non timebo mala, quoniam tu mecum es «, und die Pilgerinnen umzingelten singend den Angreifer, schlossen ihn mit ihrer heiligen Empörung und ihrem Willen ein, sie trieben ihn trotz seiner todsuchenden Waffe zurück, denn ihre Waffe hieß Entschlossenheit, und Gott war mit ihnen. » Non timebo mala …«
    »Non timebo mala«, flüsterte Nial, während Máelsnechtai hinter ihm brüllte, dass der Tag ihrer Abrechnung schon noch kommen würde.
    »Rasch – lauft«, flüsterte der alte Mann, der ihn zuletzt in Empfang genommen hatte. Die Pilger, die hier seit Wochen auf eine Überfahrt warteten, kannten ihr verwinkeltes Lager wie kein anderer, und trotz Flammen und Verwüstung, die der Schotte gesät hatte, gab es noch Schlupfwinkel, aus denen man Nial nun heraushalf. »Lauft, Bruder Nial, bringt Euch in Sicherheit!«
    Er rannte wie vielleicht nie zuvor in seinem Leben. Es war nichts wert, sein Leben, er hatte es vor langer Zeit verwirkt, als er den Pfad von Wollust und Sünde beschritten hatte, aber es konnte noch zu etwas dienen. Er würde alles tun, um Christina vor dem Griff seines Bruders zu bewahren. Er würde sie mit seinem verdammten Leben verteidigen, würde es für sie geben, wenn es sein musste. Und diesmal würde er alles richtig machen. Diesmal würde er sich die Frau nicht nehmen, um sich an ihr zu ergötzen, diesmal würde er nicht die Schuld einer Todsünde auf sich laden, weil die Schmach der Entehrung zu viel Gewicht auf Frauenschultern legte – diesmal nicht.
    Japsend sank er in die Knie.
    »Gott, du bist mein Zeuge«, keuchte er. »Ich schwöre … ich schwöre bei meinem Leben … ich werde sie schützen … vor Máelsnechtais Gier und vor meiner eigenen! Nimm meinen Schwur – und wenn ich ihn nicht halten kann, dann nimm mein Leben!«, schrie er dem Nachthimmel entgegen.
    Gott gewährte ihm diesen Versuch.
    In den Ställen von Edinburgh kannte er Männer, die ihm weiterhalfen, die ihm ein Pferd gaben und Waffen, damit er nicht noch einmal wehrlos Máelsnechtais Vergeltung erdulden musste. Das Pferd war edel und schnell, eines Königs würdig.
    »Zum Henker, Nial von Moray«, lachte der Stallbursche und ließ den Zügel fahren, »Ihr seid und bleibt ein Draufgänger, was wollt Ihr nur bei den Mönchen!« Nial ließ ihn ohne Antwort, stattdessen drückte er die Beine ans Pferd, und der Schimmel schoss los, in den grauen Morgen hinein – nach Süden, wo Christina irgendwo ihren Weg suchte. Es war so unwahrscheinlich wie Schnee im Sommer und Gottes Vergebung für einen Sünder wie ihn, aber er wusste, dass er sie finden würde – vor seinem Bruder.
    Niemand hatte sie gesehen, niemand hatte ihre Spuren aufgenommen, der Erdboden hatte sie verschluckt und gab keinen Hinweis auf ihre Existenz, doch er wusste, dass sie unterwegs war, dass sie auf wundersame Weise die Richtung einhielt und sich Schritt für Schritt ihrem selbst gewählten Ziel näherte. Er spürte ihre Müdigkeit, ihren Schmerz in Beinen und Füßen, und er spürte ihren eisernen Willen, nicht aufzugeben – weiterzulaufen. Und als er unzählige Stunden später die Flammen am nächtlichen Horizont auflodern sah, wusste er, dass er sie gefunden hatte.
    Nial sprang aus dem Sattel, noch während sein Schimmel mit den Vorderbeinen in die Luft schlug

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