Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
schlugen bereits aus den Fensterluken, als Christina sich keuchend umdrehte. Dicke schwarze Rauchwolken drangen aus der Tür und dem windschiefen Kamin, das ohrenbetäubende Geschrei des Viehs spielte die makabre Obermelodie dieses alles verzehrenden Dramas, dessen einzige Überlebende sie zu sein drohte. »Nein!«, gellte ihr Schrei durch die Nacht, doch das Entsetzen fand keinen Bruder, und so blieb sie mit ihm in der Dunkelheit allein.
Allein? Sie war nicht allein. Der fahle Schatten drehte sich tänzelnd zu ihr um. Eisig weißer Geifer rann aus seiner Maulspalte, der Geruch von Verwesung nahm ihr fast den Atem. Wie ein unheimlicher Schleier floss eine graue Rüstung über den Reiter, der Helm umschloss eng seinen Kopf. Tiefschwarze Augen blickten durch alle Schleier hindurch, stachen in ihre Seele, gierig nach dem Lebensfunken, der in ihr flackerte, Ausschau haltend … Vor ihren Augen wuchs das Pferd, schon überragte es sie, und der Reiter senkte seinen Speer. Ein Mantel aus Kälte legte sich um ihre Gestalt. Es war keine Eiseskälte, sondern die muffig klamme Kälte des Todes. Der Tod war dem Stundenbuch entkommen. Schweigend stand er vor ihr, ließ sie kosten, ließ sie fühlen, wie es sein würde, wenn er kam und sich nahm, was ihm zustand – bald.
Christina kämpfte sich auf die Knie. » Exaudi, Deus, deprecationem meam«, stammelte sie.
Da lachte der Tod, dass der Speer zitterte. Er gab ein hässliches Lachen von sich, eines, das jede Menschlichkeit hinter sich gelassen hatte, eines, das es nicht mehr nötig hatte zu erheitern. Ein Lachen wie eine vernichtende Gerölllawine, deren Echo sich durch das ganze Tal schwang und verkündete, dass Seelenfang ein einträgliches Geschäft war. Hohn grub sich wie eine giftige Krankheit in ihr Herz, goss Verzagtheit darüber und ließ es zu einer kleinen, bedeutungslosen Kugel schrumpfen, die nicht ausreichen würde, sie am Leben zu erhalten. » Exaudi, Deus «, weinte sie. »Hör mich an, hör mich an, Allmächtiger …«
Und Gott hatte Erbarmen.
In dieser unerbittlich tiefen Nacht fraß die Dunkelheit alles Helle, das sich außerhalb des Feuerscheins befand. Selbst den Schnee versuchte sie zu verschlucken. Vor dem weißen Pferd, das sich mutig den Hügel herabstürzte, war die Dunkelheit jedoch machtlos. Wie eine Traumgestalt hob es sich vom schwarzen Berg ab, unscharf umrissen und klar zugleich, und Kaskaden von Schnee stoben in die Luft, als es sich in hohem Tempo näherte. Wo die beiden Frauen sich am Abend noch mühsam hinabgekämpft hatten, trug der Schneewind das weiße Pferd sicher über versteckte Gräben und Erdlöcher, kein falscher Tritt ließ es straucheln, und nur sein langer Bogen wippte im Takt der Galoppsprünge.
Gott schickte ihr einen Engel.
ACHTES KAPITEL
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir.
(Psalm 23,4)
D ie Schwertspitze zeigte auf Nials Brust.
Das ist das Ende, dachte er. Kann das wirklich sein? Sterbe ich von seiner Hand, hier im Schmutz? Máelsnechtais Lachen war verklungen. Vielleicht hatte er ähnliche Gedanken, denn er schien zu zögern, dabei wäre es doch so einfach, ihn jetzt abzuschlachten: einmal zustechen, das Schwert in den Brustkorb bohren, wieder herausziehen. Dann ließ man den Gegner entweder liegen, oder man fügte ihm einen zweiten tödlichen Hieb zu. Er hätte den Hals gewählt, das ging schnell, und die Augen brachen, ohne einen lange zu verfolgen.
So aber wackelte die Spitze nur. Und weil Nial mit seinem Leben noch nicht abgeschlossen hatte, konnte er an den nächsten Augenblick denken und daran, welche Möglichkeiten es für ihn gab.
»Ich nehme dich als Geisel, dann wird sie schon herauskriechen«, durchbrach Máelsnechtais Stimme die Stille am Strand. »Sie schaut uns zu, Bruder. Sie ist ja hier irgendwo.« Seine Stimme wurde lauter, damit ihn auch im letzten Versteck jeder hören konnte. »Sie wird alles sehen können. Ich werde dich langsam töten, wie du es verdient hast. Die Zwergin ist zu feige, das mit anzusehen. Die Zwergin ist kein mutiges schottisches Weib so wie das, das du mir zuletzt weggenommen hast. Sie ist eine feige angelsächsische Hure. Aber ich will sie trotzdem haben.«
Niemand rührte sich auf das lächerliche Gerede hin, warum auch, hier wusste doch keiner, um welche Frau es eigentlich ging. Nial überlegte fieberhaft, was geschehen sein konnte, wo sein Ausweg war.
Dann schrie eine Frau – so spitz und schrill, dass der
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