Die Stunde Der Toechter
Marianne Stämpfli schluchzte weiter. Es dauerte lange, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
Schließlich seufzte sie tief. »Das ist ein unseliger Ort. Ich muss hier weg. Näher zu …« Abrupt hielt sie inne und blickte sich um. Wie um sicherzugehen, dass der Geist ihres Vaters nicht zuhörte. Dann schaute sie Johanna in die Augen. »Du weißt es?«
»Von Tamara.«
Marianne Stämpfli faltete die Hände in ihrem Schoß. »Meine Tochter heißt Martina. Sie studiert Medizin.« Lange starrte sie ihre Finger an. »Wir haben viel nachzuholen.« Sie lächelte. »Aber auch Zeit.«
Eine Weile schwiegen sie.
Dann räusperte sich Johanna. »Wer hat einen Schlüssel zum Tresor, Marianne?«
Tamaras Tante zuckte zusammen.
Johanna fasste sie entschuldigend am Arm. »Es tut mir leid, aber ich bin Polizistin. Ich muss herausfinden, wer Bernhards Unterlagen aus dem Tresor genommen hat.«
Erneut kamen Marianne Stämpfli Tränen in die Augen. »Nur mein Bruder und ich, Johanna.« Sie schluchzte. »Es ist furchtbar. Jemand von uns muss die Umschläge herausgenommen haben. Jemand aus Bernhards Familie.« Plötzlich erhob sie sich energisch. »Ich werde Bruno fragen.« Sie wandte sich um. »Begleitest du mich nach Hause, Johanna? Es ist nicht weit.«
Die Angesprochene stand auf.
In der Haustür erschien Schürch. Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung verneinte er Johannas stumme Frage.
Sie ging näher und warf ihm die Autoschlüssel zu. »Hol die Karre! Wir treffen uns auf dem Parkplatz.«
Er rollte mit den Augen und machte sich von dannen.
52.
»Ich bin am Getränkeumsatz beteiligt, Schätzchen.«
Lulu streute Salz über die Erdnüsse. Danach füllte sie die leeren Schalen auf. Eines der Mädchen schaute zu. Die Unterarme lagen flach auf der Theke. Den Kopf daraufgelegt, beobachtete sie Lulus Bewegungen. Wie ein Kind die Bonbonverkäuferin.
Mit beiden Händen griff sich die alternde Hure an die Brüste. »Damit funktioniert es nicht mehr so wie früher.«
Die Kleine kicherte. Eine Latina.
»Wie heißt du?«
»Maria.«
»Natürlich, Maria.« Lulu stellte die Schälchen auf ein Tablett. »Wie denn sonst?« Sie schob der Jüngeren die Knabbereien hinüber. »Hier, bring das zu den Gästen!«
Maria stöckelte mit den Nüssen davon und verschwand im ersten Separee.
Diskret genehmigte sich Lulu einen Schnaps. Die Nacht war jung. Kundschaft trudelte zögerlich ein. Die Mädchen standen gelangweilt herum. An der Theke, am Rand der Tanzfläche.
Sie blickte in den Raum.
In der Mitte befand sich die Bühne. Dort verrenkte sich gerade eine Asiatin. Außen herum war Platz zum Tanzen. Doch er wurde selten benutzt. Manchmal hängte sich ein Kunde während eines langsamen Songs an einen Busen. Dann und wann kotzte einer auf den Boden. Links und rechts waren die Logen. Zum Anbandeln und für die schnelle Nummer. Die Zimmer lagen im zweiten Stock. Die Büros im dritten.
Seit zwei Jahren schmiss Lulu diesen Laden jeden Freitagabend. Mitten im aargauischen Niemandsland. Der Club gehörte einem Österreicher, für den sie in Zürich gearbeitet hatte. Dort war es nicht gut gelaufen für ihn. Schwierig, gegen Werner Hügli anzukommen. So hatte er auf dem Land neu angefangen. Lulu war skeptisch gewesen. Zu Unrecht. Mittlerweile besaß der Österreicher nämlich drei solcher Agglo-Schuppen.
Eine Gruppe junger Männer kam herein. Laute Stimmen, gierige Blicke, weiße Turnschuhe. Einer stieg auf die Bühne. Die Asiatin griente gequält. Der Junge imitierte ihre Bewegungen. Die anderen standen um ihn herum. Johlten und klatschten.
Lulu gab einem der erfahrenen Mädchen ein Zeichen. Einer Russin. Diese schnappte sich zwei andere Frauen. Wiegenden Schrittes gingen sie auf die Bande zu. Es sah aus wie der Showdown in einem Italowestern. Die Typen waren zu fünft. Aber hoffnungslos unterlegen.
Lulu beobachtete, wie sie mit den Frauen in eine Nische gingen. Als der Vorhang zugezogen wurde, schenkte sie eine Runde Likör ein. Süß und billig. Sie nahm das Tablett und lief hinter der Gruppe her.
Aus der Loge hörte sie Gelächter. Lulu setzte ihr Willkommen-im-Puff-Gesicht auf und schob den Vorhang zur Seite.
Breitbeinig lagen die Jungs in den Polstern.
»Igitt, wo habt ihr die fette Großmutter her? Auf dem Friedhof ausgelocht?«
Die Typen wieherten.
Der Sprecher war klein. Weiches Gesicht und kalte Augen. »Behalte deine Titten im Körbchen, Oma. Ich habe gerade gegessen.«
Lulu lächelte stoisch. »Ein Willkommensgruß,
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