Die Stunde Der Toechter
stadtauswärts. Die Polizei bog links vor ihnen in eine schmale Gasse ein.
»Sag mal, leben hier auch Menschen?«
Johanna fiel ebenfalls auf, dass jedes dritte Schaufenster leer war. Die anderen waren Advokaturen oder Architekturbüros.
»Das war anders zu Gotthelfs Zeit. Zu meiner auch.«
Rechts kamen sie an der St. Galler Wursterei vorbei. Darin hatte sich Johanna während ihrer Schulzeit manches ungesunde Mittagessen geholt. Das Geschäft war geschlossen. Tür und Fenster vernagelt. Links tauchte ein Parkplatzschild auf.
Darauf zeigte Schürch. »Wenn ich das richtig sehe, hätten wir hier parkieren können. Du hast einen gigantischen Umweg gemacht, Jo.«
Johanna blieb stehen. Die Polizei fuhr zum zweiten Mal an ihnen vorbei. »Das stimmt, Sebi. Hätten wir. Aber ich bin ein sentimentaler Mensch. Wer weiß, wann ich das nächste Mal hierherkomme?«
Er pfiff durch die Zähne und schüttelte den Kopf. »Eine Heulsuse! Eine intellektuelle Heulsuse!«
Johanna ging weiter. Kurz darauf deutete sie den Hang hinauf zu einer Villa. »Dort müssen wir hin.«
Die letzten Meter legten sie schweigend zurück.
Marianne Stämpfli erwartete sie im Garten. Sie öffnete das Tor. Ihre Augen sahen verweint aus.
Johanna umarmte sie. »Es tut mir leid, Marianne.«
Tamaras Tante suchte in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. »Es war absehbar, dass ihm etwas Schlimmes geschehen würde. Nach allem, was er getan hat. Aber es tut trotzdem weh, Johanna.« Sie schnäuzte. »Er hätte nicht umgebracht werden müssen. Gefängnis hätte gereicht. Als Strafe, meine ich.«
Nachdem sie das Taschentuch eingesteckt hatte, sah sie Johannas Kollegen an.
Dieser reichte ihr die Hand. »Schürch ist mein Name. Mein Beileid, Frau Stämpfli.«
Marianne dankte und ging durch den Garten auf das Haus zu. Sie folgten ihr hinein. Obschon die Fenster geöffnet waren, roch es muffig. Die Möbel waren mit Leintüchern bedeckt.
»Mein Vater lag die letzten Wochen seines Lebens im Spital. Davor hat er jahrelang allein hier gewohnt.« Traurig blickte Marianne Stämpfli Johanna an. »Man riecht die Einsamkeit.«
»Was wollt ihr mit dem Haus machen?«
Marianne zuckte mit den Schultern. »Wir wissen es nicht so genau. Wahrscheinlich verkaufen. Bruno will es nicht unbedingt übernehmen. Ich auf keinen Fall.« Sie hielt einen Moment inne. »Bernhard hätte es als Letzter von uns allen genommen. So viel ist sicher.«
Sie ging durch das Entree hindurch einen Korridor entlang. Am Ende schloss sie eine Tür auf.
»Das Archiv ist hier.«
Schürch und Johanna folgten ihr in einen dunklen Raum. Er war voller Aktenschränke und Bücherregale.
»Vater hat nie etwas weggeworfen.« Marianne ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Es wurde ein Quäntchen heller. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Schreibtisch aus dunklem Holz. Rechts daneben ein ebenso imposanter Geldschrank.
»Sind die Unterlagen da drin?«
Marianne Stämpfli nickte. »Mir ist kein sicherer Ort eingefallen. Vater hatte Geschäftsakten drin. Und Geld. Bündelweise.«
Sie holte den Schlüsselbund hervor und ging zu dem Tresor. Er besaß drei Schlösser. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn öffnen konnte. Dann kramte sie darin herum.
»Das ist merkwürdig. Die Unterlagen sind nicht mehr da, wo ich sie hingelegt habe.« Bekümmert blickte sie Johanna an. »Es waren zwei große Briefumschläge. Verschlossen. Versiegelt sogar. Es hat mich belustigt, dass Bernhard so etwas Altmodisches macht.«
Sie kniete nieder und untersuchte den Tresor ein zweites Mal. Johanna ging zu ihr. Im Innern des Geldschrankes lag haufenweise vergilbtes Papier. Marianne räumte alles aus. Schließlich erhob sie sich wieder. Tränen in den Augen.
»Hat das etwas mit seinem Tod zu tun?«
Johanna versuchte, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. »Ich weiß es nicht, Marianne.«
»Ich bin schuld.« Stämpflis Schwester heulte los. »Er würde noch leben, wenn ich seine Unterlagen besser versteckt hätte.« Von Weinkrämpfen geschüttelt, versagte ihr die Stimme.
Johanna nahm sie in den Arm. »Dich trifft keine Schuld. Bernhard ist mit offenen Augen in die Katastrophe gerannt. Er wusste, worauf er sich eingelassen hat.« Sie führte Tamaras Tante zur Tür. »Komm, wir gehen an die frische Luft.«
Im Vorbeilaufen gab sie Schürch ein Zeichen.
Er nickte und ging zu dem Tresor.
Draußen setzten sich die beiden Frauen auf eine schmiedeeiserne Bank in den Schatten eines großen Nussbaumes.
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