Die Stunde der toten Augen
Mädchen vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Er hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie ein Mädchen aussehen konnte, das auf ihn wartete.
Draußen tauchten die ersten Häuser von St. Georgen auf. Es waren kleine, an die Abhänge gekuschelte bunte Häuschen im Gebirgsstil, mit schrägen Dächern und weißgestrichenen Fenster- kreuzen. Der Schnee säumte in hohen Wällen die Ränder der Straße. Die Bäume waren bis an die Kronen in diesen Schneewällen verborgen.
Barden sagte; „Wir bekommen im Hotel ein paar Zivilanzüge. Solche Skianzüge, wie sie hier jetzt jeder trägt. Es gibt da einen Ausleih ... Läufst du eigentlich Ski?"
„Leidenschaftlich", sagte Alf.
Dann fragte der Fahrer: „Kennen Herr Oberst die Straße, in der das Hotel ist?" Barden kannte sie.
„Hallo, Leutnant!" rief das Mädchen. „Haben Sie Angst?"
Sie stand unten, zwischen den ersten, kleinen Tannenbäumchen am Waldrand, und Alf bastelte ein Stück weiter aufwärts an seinem Ski. Sie war noch nicht alt, aber sie hatte die schlanke, ausgereifte Figur einer Frau. Ihr Haar war ein wenig zu blond, doch das störte Alf nicht.
„Gisela", rief er zurück, „ich bitte Sie: Sagen Sie nicht immer Leutnant zu mir! Außerdem ist meine Bindung nicht in Ordnung,"
„Darf ich Bubi sagen?" neckte ihn das Mädchen, den Kopf auf die Hände legend, die die Skistöcke hielten.
„Ich warne Siel" rief Alf. „Gleich ist meine Bindung in Ordnung, dann lernen Sie Bubi kennen!"
„Ich kenne ihn aber schon!"
„Hat Ihnen das der Oberst verraten?"
„Er hat mir sogar ein Bild von Ihnen gezeigt. Es ist schon einige Zeit her. Damals war er ein paar Wochen hier. Kommen Sie jetzt?"
„Ich komme!" kündigte Alf an, und dann stieß er sich ab.
Er schoß hinter dem Mädchen her in den Waldweg hinein, und sie ließen die Skier auslaufen. Alf versuchte das Mädchen einzuholen, aber sie lief ihm davon. Sie war eine gute Skiläuferin. Während Alf überlegte, wer es ihr beigebracht haben mochte, liefen sie ein Stück durch einen dichten Waldbestand, und dann waren sie wieder an einem Abhang, der zum Ort hinabführte.
Unten brannten schon die ersten Lichter. Sie verbreiteten die anheimelnde Atmosphäre des nahenden Abends. Der Abend war das schönste an diesen Gebirgsorten. Dann blitzte der Schnee unter den Laternen, und der Holzrauch aus den Schornsteinen würzte die Luft. Man traf sich in der Hotelhalle, die nach Tannennadeln und Bohnerwachs, nach Rotweinpunsch und Zigarren roch. Oder in der Bar, wo die Hocker mit bunten Figuren bemalt waren und die Gläser mit Edelweißblüten. Es war ein Frieden von eigener Art. Alles drückte die Gewißheit aus: Bis hierher wird der Krieg nie kommen. Dieses Nest in den Bergen ist eine Insel der Geborgenheit. Und dann gab es die anderen Gäste.
Alf hatte sich mit Gisela in der Bar verabredet. Er überprüfte im Spiegel seines Zimmers noch einmal den Sitz der dunklen Skihose, bevor er hinabstieg. An der Tür erinnerte er sich daran, daß er sich nach seiner Heimkehr von der Skitour für eine Weile auf dem Bett ausgestreckt hatte. Er ging noch einmal zurück und zog sorgfältig die Steppdecke glatt. Er tat es mit einem verstohlenen Lächeln und kam sich dabei sehr verwegen vor. Das Mädchen Gisela hatte alle Unsicherheit in ihm mit ein paar geschickten Wendungen im Gespräch beseitigt. Alf fühlte sich mit einemmal wie ein Draufgänger. Er hatte dieses Gefühl bisher nie gehabt, ja, er hatte nie geglaubt, daß er auf diese leichte, spielhafte Weise mit einer Frau umgehen könnte. Es war eine verhältnismäßig kurze Zeit vergangen, seit er Gisela kennengelernt hatte. Aber er hatte die Zeit genutzt.
Unten in der Halle setzte er sich in einen der breiten Plüschsessel und zündete sich eine von den englischen Zigaretten aus Bardens Koffer an. Er legte die Packung mit dem Feuerzeug vor sich auf den niedrigen Rauchtisch, während er zur Tür schaute, wo in einer Nische, halb hinter einem schweren Vorhang versteckt, der Portier vor sich hin döste.
Dieser Portier kennt seine Kundschaft, dachte Alf. Er hat einzig und allein die Aufgabe, im richtigen Augenblick schläfrig zu sein und die Augen zu schließen. Er tut das für zwei Zigarren am Tag, ich glaube kaum, daß Barden ihm mehr gibt.
„Donnerwetter, Beuteware?" sagte in diesem Augenblick eine ziemlich helle, wenig sympathische Stimme hinter ihm. Alf blickte sich um und erkannte den Leutnant, der ein Zimmer auf dem gleichen Flur wie er bewohnte. Der Leutnant war in
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