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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Wir haben noch ein paar Tage."
    Es kränkte ihn, denn er fühlte sich stark und nüchtern. Er hatte von der Toilette her noch den bitteren Geschmack im Mund und wagte nicht, sie zu
    küssen. Er streckte sich neben ihr aus und fühlte ihren Körper, und das einzige, was sie ihm erlaubte, war, seine Hand auf ihre Brust zu legen. Nach einer Weile zog er sie fort und verschränkte beide Arme unter dem Kopf.
    „Du kennst unser Leben nicht", sagte er, „du weißt nicht, was wir durchmachen müssen ..."
    „Nein", sagte sie schläfrig, „und wenn ich es wüßte, würde sich heute nacht auch weiter nichts mehr abspielen, mein Lieber. Aber erzähl noch ein bißchen von dem, was ihr durchmachen müßt. Dabei schläft es sich schön ein ..."
    Er war beleidigt und überlegte, ob er sie vor die Tür setzen sollte. Aber er besaß keine Kraft, so etwas zu tun. Er zog nur die Stirn in Falten und sagte: „Keiner weiß, was wir leisten. Keiner wird es je erfahren. Auch du nicht. Tag für Tag und Nacht für Nacht sein Leben einsetzen ..."
    Sie rekelte sich behaglich. Ihr blondes Haar lag gelöst über dem Kissen. Er sah sie nicht an. Er starrte an die Decke. Er fühlte sich beleidigt und verletzt, abgewiesen. Er hatte sich diese Nacht anders vorgestellt.
    „Erzähl ein bißchen, wie ihr euer Leben einsetzt...", brabbelte sie, „das ist ganz schön, so vor dem Einschlafen..." Er reagierte nicht darauf, aber er sprach trotzdem weiter. Er sah die Kompanie so deutlich vor sich, als stünde er mitten unter den Soldaten, jetzt, in diesem Augenblick, während er neben dem blonden Mädchen im Bett lag.
    Er sah das Raubvogelgesicht Zados, die fragenden Augen Bindigs und den verkniffenen Blick Timms. Er erinnerte sich, daß sie unterwegs waren, eingesetzt am selben Tag, an dem er seinen Urlaub begonnen hatte. Und er begann von ihnen zu erzählen. Er erzählte der betrunkenen Frau alles, was er selbst nicht gesehen, nur gemeldet bekommen hatte. Die Nächte, bewegungslos in irgendeinem Gehölz verbracht, der blitzschnelle, lautlose Mord an einem Posten und das trockene Bellen der Pistolenschüsse. Die Angst, entdeckt zu werden, und die Verzweiflung, wenn man entdeckt war. Er schilderte die Detonation einer Sprengladung und den Todesschrei eines Russen, das Blut, das an den Uniformen der Männer klebte, und ihre bleichen, eingefallenen Gesichter, wenn sie zurückkamen. Er schilderte es so brutal und grausam, daß er selbst daran zu glauben begann, es erlebt zu haben. Er wollte die Frau treffen mit all dieser Grausamkeit, er wollte ihr Achtung vor sich einflößen, und es war ihm ein beinahe sadistisches Vergnügen, ihr zu beschreiben, auf welche Weise man Menschen töten kann. Er hatte nie einen toten Russen gesehen, aber er beschrieb ihn sehr genau.
    Einmal hatte Zado ihm geschildert, wie sie einen Posten erledigt hatten. Er beschrieb auch das alles und spürte, wie ihm das Blut dabei zu Kopfe stieg, wie er immer nüchterner wurde, immer wütender in seiner Hilflosigkeit. Er wollte sie treffen und ihr Angst einflößen und Achtung. Hier lag nicht ein Leutnant wie dieser andere von den Nachrichten. Hier lag Alf, der eine Truppe führte, die zu töten gewohnt war, kalt und brutal, der ein Mensch nicht viel mehr wert war als eine verlorene Patrone, eine Frau soviel wie die wertlose Abzugsschnur einer Handgranate.
    „Gnade Gott, wer uns in die Finger gerät...", sagte er. Seine Stimme begann vor Erregung zu beben. „Manchmal möchte ich das allen Leuten sagen. Es wird eine Zeit kommen, da werden wir von jedem Rechenschaft fordern über das, was er selbst getan hat, während wir unser Leben einsetzten ... Dann wird mancher, der es heute noch nicht weiß, merken, wer wir sind ... und ..."
    Es war warm im Zimmer. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er bewegte sich impulsiv. Er wollte ihr irgendeine Kränkung zufügen. Er wollte ihr eine Verletzung beibringen, die sie an ihn erinnerte und an diese vertane Nacht, und er suchte nach Worten, während sie neben ihm ruhig atmete, mit geöffnetem Mund, die Lippen noch rot vom Lippenstift, und mit dem vollen, gebleichten Haar, das sie älter machte, als sie in Wirklichkeit war. Er reckte sich und setzte von neuem an, bemüht, alle Sinne auf das zu konzentrieren, was er sagte. Und während er sich reckte, noch bevor er wußte, was er weiter sagen wollte, hörte er sie leise und unwillig murmeln:
    „Mein Gott, du hättest wenigstens die Schuhe ausziehen können. Ich habe meine besten Strümpfe an, und du

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