Die Stunde der toten Augen
Paniczek konnte aus seinem Versteck neben dem Obergefreiten nicht erkennen, wer von den beiden zuerst auf den Jeep schoß. Aber er hörte die Salve aus der einen MP und kurz darauf die der zweiten. Er sah, wie der Jeep auf der Straße im Zickzack zu fahren begann, wie aus ihm Mündungsfeuer kam und er schließlich stehenblieb. Im gleichen Augenblick fiel einer der beiden Russen an der Kreuzung langsam zu Boden. Da griff Paniczek schnell nach dem Telefonhörer und rief Bindig durch den Draht ein paar Worte zu. Er ließ den Hörer achtlos fallen, denn der Obergefreite neben ihm hatte das Maschinengewehr hochgerissen und sprang auf die Straße. Paniczek griff sich die beiden Munitionstrommeln, die neben dem Telefon lagen, und sprang ihm nach. Aus dem Jeep, der schräg auf der Straße stand, schössen vier Maschinenpistolen mit geradezu unglaublicher Präzision. Noch bevor Paniczek den Ober- gefreiten erreichte, der hinter dem Maschinengewehr lag, spürte er den Schlag auf der Brust. Er machte einen unbeholfenen Satz nach vorn und schaffte es bis zu dem Obergefreiten, aber als er neben dem Maschinengewehr hinfiel, hatte er die Munitionstrommeln aus den Händen verloren, und hinten, wo die Straße sich in der Dunkelheit verlor, tauchte der erste Panzer auf.
Bindig lauschte auf die Schüsse. Es war nicht zu unterscheiden, wer schoß, denn sie hatten dort vorn an der Kreuzung alle russische Waffen. Der Posten mit der Flagge war von der Straße verschwunden. Bindig rief ein paarmal nach ihm, aber es meldete sich niemand. Dann hörte er die Panzer. Zuerst war nur das dumpfe, hohle Gedröhn der Rohölmotoren zu hören, aber dann klirrten Ketten, und gleich darauf krachte der erste Abschuß aus einer Panzerkanone. Der Schuß war kurz gezielt, denn der Einschlag verschmolz mit dem Abschuß. Es folgte ein zweiter, ein dritter.
Plötzlich huschte eine Gestalt aus dem Waldweg. Sie verhielt ein paar Sekunden lang an der Straße und huschte dann zu Bindig hinüber. Es war Timm. Er warf sich, ohne zu zögern, neben Bindig und drehte wild an der Telefonkurbel. Er schüttelte den Hörer und blies in die Muschel, aber es meldete sich niemand am anderen Ende. Da fluchte er leise und spähte auf die Straße.
„Wo ist der Iwan, der hier unten stand?" fuhr er Bindig an.
„Weg", sagte Bindig, „ist er nicht zu euch gelaufen?"
„Das Schwein!" schimpfte Timm. „Er ist weg. Und einer von den beiden anderen auch. Hättest ihn umlegen sollen..."
Er horchte auf den Feuerwechsel an der Straße, aber das war schon kein Feuerwechsel mehr, denn das Maschinengewehr, mit dem der Obergefreite geschossen hatte, schwieg. Es gab nur noch einzelne Abschüsse von Panzerkanonen und dazwischen das bösartige Bellen der Maschinenpistolen. Die Motoren schienen gedrosselt zu sein. Die Panzer wußten nicht, was sie noch erwartete, sie hielten an.
„Wir müssen fort!" sagte Timm. Es klang eigenartig gepreßt, Bindig hörte ihn zum erstenmal so sprechen, aber er war sich nicht darüber klar, ob es vielleicht daran lag, daß er flüstern mußte.
„Wohin?" fragte er. Vor ihm lag die Maschinenpistole. Daneben ein paar bereitgelegte Magazine. Timm merkte den Blick.
„Damit hältst du sie nicht auf. Das sind mindestens ein halbes Dutzend Panzer."
„Es sind mehr", sagte Bindig, „jetzt hört man sie nicht, aber vorhin, bevor die Schießerei anfing, hat man es merken können. Es sind mehr als ein halbes Dutzend."
„Los!" forderte Timm ihn auf. „Wir hauen ab, ehe sie heran sind. Jeder einzeln versuchen, den See zu erreichen, wo die Maschine landet." Er erhob sich und beobachtete die Straße. Er hatte die Pelzmütze tief in die Stirn gezogen. Mit dem Lauf der Maschinenpistole schob er die Zweige beiseite. Dann drehte er sich noch einmal um und befahl Bindig: „Wir lassen jetzt die paar Kähne hochgehen und hauen ab. Du wartest, ob von denen da vorn noch einer zurückkommt. Dem sagst du Bescheid. Wenn du den ersten Panzer siehst, haust du ab. Dann kommt keiner mehr."
Bindig wollte etwas antworten. Er öffnete den Mund. Aber Timm hatte sich schon durch die Zweige geschoben und sprang auf die Straße. Bindig sah, wie er nach der Kreuzung lauschte, wo der Lärm für Sekunden verstummte. Dann machte Timm einen Satz über die Straße und huschte lautlos, wie er gekommen war, in den Waldweg.
„Es kommt niemand mehr", sagte Bindig zu sich selbst, „es kommen nur noch die Panzer."
Er duckte sich wieder und hockte sich neben die Maschinenpistole. An der
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