Die Stunde der toten Augen
heißt! Sie fangen an, mir zu gefallen!"
„Ich gehe zum ...", setzte Bindig an. Aber Timm unterbrach ihn, noch immer lachend: „Schon gut! Wir haben alle mal angefangen! Hauen Sie ab!"
„Für den Fall, daß...", setzte Bindig wieder an. Aber Timm winkte mit der Hand ab.
„Morgen früh. Vorher werden Sie hier nicht gebraucht." Mit einem Male wurde er wieder ernst und sagte: „Sie sind übermorgen mit dabei. Bereiten Sie sich darauf vor. Nutzen Sie die Zeit. Morgen gibt es keinen Nachturlaub mehr."
„Jawohl", sagte Bindig heiser, „danke, Herr Unteroffizier."
Als er gegangen war, trat Timm ans Fenster und sah ihm nach. Es war noch eine Scheibe in dem Fenster, und die war viermal gesprungen. Timm preßte das Gesicht an das Glas und blickte hinaus. Er sah Bindig die Dorfstraße entlanggehen.
Als er verschwunden war, zündete sich Timm nachdenklich eine Zigarette an. Er blies den Rauch in die stickige Luft des überheizten Raumes und sagte halblaut: „Bindig ..." Er erinnerte sich an die Nacht, als er durch das Fenster in das Bahnwärterhäuschen gesehen hatte. Er sah Bindig und Zado durch die Tür eintreten, mit ihren geschwärzten Gesichtern, die Russenmäntel an und die Pelzmützen auf den Helmen. Er hörte die Schüsse, und dann sagte er: „Zwei Millionen Soldaten, die so sind wie dieser Bindig, und der Krieg wäre gewonnen. Kalt wie eine Hundeschnauze und rot im Gesicht, wenn man deutsch von einer Frau redet. Das ist Material. Zwei Millionen davon ..."
Bindig trug die Scheibe, die Anna aus einem der zerstörten Häuser genommen hatte, nach dem Gehöft. Er sprach nicht viel. Er ging nur neben ihr her und sah sie zuweilen an.
Dann half er Jakob, die Scheibe zurechtzuschneiden und einzusetzen. Der taubstumme, schwachsinnige Knecht hatte irgendwo ein Taschenmesser mit einem Stahlrädchen aufgetrieben. Er schnitt die Scheibe mit viel Geschick, nachdem er die Scherben der alten aus dem Rahmen entfernt hatte. Schließlich paßte er sie ein, und dann brachte er aus dem Schuppen ein paar schmale Leisten und eine Säge herbei. Die Scheibe mußte mit Leisten befestigt werden, weil kein Kitt aufzutreiben war. Bindig ging ihm zur Hand, und insgeheim bewunderte er die Geschicklichkeit des Mannes. Sie setzten den Fensterrahmen wieder ein, als es schon dämmerte. Anna zündete den Docht der Petroleumlampe an und zog die schweren, dunklen Vorhänge zu, damit kein Lichtstrahl nach draußen drang. Dann kümmerte Jakob sich um das Vieh, und sie half ihm, es zu füttern. Aber sie ließ es nicht zu, daß Bindig mit in den Stall ging, um zu helfen. Sie bat ihn, in der Küche zu bleiben und auf das Essen zu achten, das auf dem Herd stand.
Es dauerte lange, bis die beiden aus dem Stall zurückkamen. Bindig sagte nichts, als sie Jakob zuerst zu essen gab und ihn bat, sich ein wenig zu gedulden. Der Knecht löffelte mit einem seltsam ernsten Gesicht seine Suppe. Es war nicht sein übliches Gesicht, jene ewig grinsende, idiotische Grimasse. Anna hantierte schweigend mit dem Geschirr. Sie schnitt Brot für Jakob ab. Es war flaches, schwärzliches Brot, selbstgebacken aus Mehl, das nichts taugte. Aber es war Brot, und die Frau behandelte es wie ein Heiligtum. Der Knecht aß wenig. Er erhob sich bald vom Tisch und begab sich in seine Kammer über der Küche. Er grinste Bindig an, als er sich vom Tisch erhob, und bewegte ein paarmal den Kopf hin und her, aber er hatte bereits in der Tür wieder ein ernstes, fremdes Gesicht. Bindig beobachtete diesen Wechsel interessiert. Er gab sich Mühe, es nicht merken zu lassen, aber die Frau mußte seinen Blick aufgefangen haben. Sie sagte schnell: „Er ist müde heute. Es hat viel Arbeit gegeben."
Bindig nickte. Versonnen sah er der Frau zu, wie sie sich zwischen dem Herd und dem Tisch bewegte. Er war verwundert darüber, daß sie fast ununterbrochen sprach. Über irgendwelche belanglose Dinge, auf die er ebensolche belanglose Antworten gab. Damals, als er mit Zado bei ihr gewesen war, hatte Anna nur wenig gesprochen. Heute war sie anders, sie brachte es fertig, über eine Nichtigkeit zu lachen, und es war ein schönes, klangvolles Lachen, bei dem ihre Augen blitzten.
„Sie müssen sich noch einen Augenblick gedulden ...", bat sie ihn plötzlich.
Als sie zurückkam, trug sie anstatt des Rockes und der Leinenbluse ein buntes Kleid. Sie hatte helle, durchbrochene Schuhe angezogen und ihr Haar sorgfältig zurückgekämmt. Sie sah aus wie ein junges Mädchen, das sich für den Sonntag
Weitere Kostenlose Bücher