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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Ärzte feststellten. Aber der Mann gefällt mir nicht. Er war früher anders. Würden Sie wieder mit ihm eingesetzt werden wollen?"
    „Warum nicht?" antwortete Bindig prompt. „Er war immer in Ordnung. Durchdrehen kann jeder mal."
    „Darum geht es nicht", sagte Alf, „so ein Mann kann eine ganze Aktion gefährden!"
    „Ich wußte nicht, daß er zurück ist", sagte Bindig.
    „Er ist vor einer Stunde gekommen. Sprechen Sie mit ihm. Und sagen Sie mir danach Ihre Meinung, ob man ihn morgen abend mit einsetzen kann."
    Das war Alfs Art, die Kompanie zu befehligen. Er ließ die Soldaten im Zweifel darüber, ob er sich aus Unsicherheit mit ihnen beriet oder ob das seine Methode war. Er sprach nicht mehr von dem Hindenburgbild. Er sagte überhaupt nichts mehr darüber. Auch nicht über die Sache mit den beiden Feldgendarmen. Es gab wenige, die aus ihm klug wurden. Aber die Folge davon war, daß die Soldaten ihn für gerecht und gutmütig hielten. Und auf diese Weise hielt er die Disziplin in einer Einheit aufrecht, in der sie nur schwer aufrechtzuerhalten war. Die Kompanie wäre ihm einfach aus den Fingern geglitten, wenn nicht seine Art, sie zu führen, den Männern das trügerische Gefühl eingegeben hätte, die größtmögliche Freiheit zu besitzen.
    Bindig reinigte seine Pistole sorgfältig. Er lud die beiden Magazine wieder, wobei er jede Patrone, die er einschob, peinlich mit einem Lappen abwischte. Als er fertig war, machte er sich auf den Weg, den Oberkellner zu suchen. Er fand ihn in dem Haus, das seine Gruppe bewohnte. Er hockte dort in der Küche auf der Ofenbank und kaute Brot. Neben ihm stand ein Topf mit einer trüben Flüssigkeit, die entfernt an Kaffee erinnerte. Der Oberkellner kaute Brot und schluckte abwechselnd von dem Kaffee.
    „He...", rief Bindig, „du bist wieder da! Hab' ich's doch gesagt, daß du es bei den Karbolzwergen nicht lange aushältst! Wie war's?"
    Der Angeredete hielt ihm die Hand hin. Er machte ein unglückliches Gesicht, aber in den Augen glomm ein verborgenes Feuer. Bindig konnte sich nicht erinnern, das jemals an dem Oberkellner wahrgenommen zu haben, außer vielleicht damals in der Maschine, als der Oberkellner auf Timm schießen wollte. Aber da war es sehr dunkel gewesen.
    „Sie haben mich genäht und mir Spritzen gegeben", murmelte er. Es war, als spräche er zu jemand, der nicht vor ihm stand wie Bindig, sondern den er sich nur vorstellte. So wie mancher Selbstgespräche mit einer Person führt, die in der Realität nicht existiert und die er darum nicht mit großer Lautstärke anredet.
    „Spritzen", sagte Bindig, „haben sie geholfen?"
    „Die Haut ist zusammengewachsen", sagte der Oberkellner, „es ging sehr schnell." Er bewegte den Arm und fügte hinzu: „Kopfschmerzen habe ich.
    Jeden Tag werden sie schlimmer. Dagegen können sie nichts machen. Oder sie wollen nicht. Kein Mensch glaubt mir, daß ich Kopfschmerzen habe. Es ist, als hätten sie mir in den Kopf geschossen. So, daß man von vorn kein Loch sieht. Schweine."
    „Du solltest dir vom Sani was geben lassen", riet ihm Bindig. Aber der andere machte nur eine müde Handbewegung.
    „Ich brauche nichts mehr", sagte er leise. Dann senkte er seine Stimme zu einem tonlosen Flüstern. „Ich brauche nur noch eine Fahrkarte nach Hause. Ich habe die Schnauze voll. Total voll!" Er fuhr sich mit der Hand ans Kinn, und seine Annen leuchteten auf dabei.
    Bindig kannte ihn so nicht. Er fragte sich, ob die Ärzte im Lazarett wirklich nicht herausgefunden hatten, was mit dem Oberkellner los war. Er versuchte, aus ihm herauszubekommen, ob es die Kopfschmerzen waren, die ihn in diese Verfassung gebracht hatten, oder ob er einfach die Belastung durch die Einsätze nicht mehr ertrug. Er sagte vorsichtig: „Demnächst sind wir wieder dran. Vielleicht schon morgen, überrmorgen. Dann bleiben wir zusammen."
    Aber der kleine Oberkellner sah ihn nur mit einem aus-druckslosen Blick an und antwortete gepreßt: „Ich gehe nicht mit. Ich bin krank. Kranke Leute kann man nicht auf Einsatz schicken."
    „Das nicht", sagte Bindig, „aber sie haben dich entlassen. Das bedeutet, daß du gesund bist. Wie willst du Alf klar machen, daß du krank bist?"
    Der Oberkellner trank mit einer müden Bewegung den Rest des dünnen Kaffees aus. Er warf den Topf achtlos hinter sich auf die verdreckte Herdplatte. So, als beabsichtige er, niemals mehr etwas zu trinken. Dann stand er auf und legte Bindig die Hand auf die Schulter. Er war vollständig

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