Die Stunde der toten Augen
geschmückt hat.
„Oh ...", sagte Bindig überrascht, „Sie sind ..."
Sie kam auf ihn zu. Wieder wie ein junges Mädchen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sie drehte sich vor ihm und fragte mit seitwärts geneigtem Kopf: „Mein bestes Kleid. Gefällt es Ihnen?"
Er war sehr unsicher, als er sagte: „Ausgezeichnet... Sie müßten es jeden Tag tragen ..."
Die Frau hatte ihn überrascht. Er wollte es nicht zeigen, aber sie wußte es selbst gut genug. Sie war ebenso unsicher wie er und verbarg ihre Unsicherheit hinter vielen nichtssagenden Worten, hinter ihrem klingenden Lachen und dem Glanz ihrer Augen. Sie verbarg ein Gefühl dahinter, das sie selbst noch nicht genau kannte. Es gelang ihr so gut, daß er schließlich sagte: „Sie sind eine Ver-wandlungskünstlerin! Ich habe nicht geglaubt, daß Sie überhaupt lachen können."
Da ließ sie die Arme sinken und sagte leise, so wie sie sonst immer gesprochen hatte: „Wie lange habe ich keinen Gast gehabt, für den es gelohnt hätte, ein gutes Kleid anzuziehen ..."
Er nickte. Dieses Dorf war ein totes Dorf. Das Leben in seinen Mauern war kein wirkliches Leben. Eines Tages würde es in Haselgarten nichts mehr geben als geschwärzte Mauerreste und Granattrichter. Er zweifelte nicht daran, und er mußte die Worte herauswürgen.
„Wenn der Krieg vorbei ist, dann werden Sie oft Gäste haben. Ich hoffe, daß ich dann auch einmal kommen darf ..."
An der Wand über dem Küchenschrank hing eine alte, unansehnliche Kuckucksuhr. Ihre Zeiger hielten auf der achten Stunde. Die Klappe des Gehäuses öffnete sich, und der Kuckuck steckte achtmal seinen Kopf heraus;
dabei gab es ein krächzendes, dem Kuckucksruf kaum ähnliches Geräusch.
Sie blickten beide nach der Uhr, und dann sagte Anna plötzlich: „Der Kuckuck hat gerufen. Es ist Zeit zum Essen! Wie lange dürfen Sie bleiben?"
„Ich ..." Er stockte und überlegte schnell, bevor er weitersprach. Er sah das grinsende Gesicht Timms vor sich.
„Es ist bei uns nicht so genau", sagte er, „ich habe Zeit. Wir sind..."
„Essen wir", forderte ihn Anna auf. Sie trug die Speisen zum Tisch und setzte sich ihm dann gegenüber. Sie hatte Rauchfleisch mit Kraut gekocht. Als sie gegessen hatten, brachte die Frau eingemachte Kirschen auf den Tisch.
Sie streute Zucker darüber und sagte: „Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, daß Sie den Zucker brachten. Hoffentlich haben Sie keinen Ärger deshalb."
„Was soll das schon für Ärger geben?" Er lachte. Sie sagte: „Jedenfalls danke ich Ihnen. Und eine Überraschung habe ich auch noch für uns..."
Es war mit einem Male so, als wäre er mit dieser Frau bereits seit Monaten bekannt. Als wären sie gute Freunde. Zunächst hatte Bindig das verwirrt, aber er überwand diese Verwirrung schnell.
Als Überraschung gab es eine Flasche Wein. Es war ein schwerer süßer Obstwein, und sie erzählte ihm, daß es früher im Dorf einen Bauern gegeben habe, der ihn selbst zog. Als Bindig ein Glas davon getrunken hatte, wußte er, daß dieser Wein gefährlicher war als der Genever, den sie gelegentlich bekamen. Er sagte ihr das, aber sie lachte nur. Sie füllte die Gläser aufs neue und trank ihm zu. Er merkte, wie ihre Bewegungen leichter, gelöster wurden. Sie hörte ihm zu, als er von dem Genever erzählte und davon, wie sie ihn in Holland auf die Fahrzeuge der Kompanie verladen hatten. Er erzählte von zu Hause und von der Kompanie. Von Zado und auch von der Geschichte mit dem Hindenburgbild.
„Er wird Ihnen zu Weihnachten keinen Urlaub geben. Und Ihr Mädchen wird umsonst warten", sagte Anna.
Sie hob das Glas und trank. Sie setzte es ab, als er sagte: „Ich habe
Weihnachten ohnehin keinen Urlaub zu beanspruchen. Und
ein Mädchen habe ich auch nicht. Also wird niemand warten."
„Kein Mädchen", sagte die Frau nachdenklich, „warum?"
„Das ist eine lange Geschichte. Keine sehr schöne."
„Sie haben schöne Hände. Gar nicht wie ein Soldat..."
Sie wich seinem Blick nicht aus. Sie sah ihn an. Aber es lag
keine Herausforderung in ihrem Blick. Er war nachdenklich.
Ein wenig traurig, wie Bindig meinte.
„Ihr Mann ist im Krieg?" fragte er.
Eine Weile war es still. Dann schüttelte die Frau den Kopf.
„Ich habe keinen Mann mehr. Er ist tot. Gefallen, vor zwei Jahren."
„Oh, verzeihen Sie, bitte ..."
„Es ist nichts zu verzeihen", sagte sie, „ich bin eine von den Frauen, die
froh darüber sind, daß ihr Mann nicht mehr lebt."
„Ich verstehe nicht.
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