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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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nahm sich vor, zu Alf zu gehen und ihm zu erklären, wie es um den Oberkellner stand. Aber er schob es noch auf, obwohl er nicht recht wußte warum.
    Er vergaß es endgültig, als er plötzlich auf der Dorfstraße die Frau aus dem einsamen Gehöft gehen sah. Sie hatte ein schweres, gestricktes Tuch um die Schultern geworfen. Unter dem Arm trug sie eine Glasscheibe, und Bindig fragte sich erstaunt, woher sie wohl die Scheibe habe, denn es gab nicht mehr viel Scheiben im Dorf. Man mußte lange suchen, bis man eine fand, die nicht zerschlagen war. Er lief ihr ein Stück nach und rief.
    Erst als die Frau sich umwandte, wurde er sich bewußt, daß er „Anna!" gerufen hatte.
    „Sie sind es!" sagte die Frau erstaunt. Sie gab sich keine Mühe, gleichgültig zu erscheinen. Sie lächelte. „Es ist lange her, daß mich jemand mit meinem Namen gerufen hat."
    Er war atemlos von dem Lauf hinter ihr her. Er würgte heraus: „Verzeihen Sie, Sie sagten Ihren Namen, und jetzt... ich wußte nicht..."
    Sie standen allein, dort, wo das Dorf zu Ende ging. Sie lehnte sich an eine der Bänke, auf denen früher die Milchkannen der Bauern gestanden hatten, die morgens von den Molkereifahrzeugen geholt wurden. Sie sagte: „Es ist schön, daß Sie sich meinen Namen gemerkt haben. Ich dachte, Sie würden wieder einmal kommen ..."
    Er spürte mit einem Male sein Herz klopfen. Er sah sie an, und sie erwiderte den Blick mit einem Lächeln. Er glaubte sich zu irren, denn er hatte alles andere erwartet, nur nicht dieses Lächeln.
    „Sie haben eine Scheibe geholt?" fragte er verwirrt. „Warum haben Sie mir nichts gesagt? Ich hätte Ihnen geholfen ..."
    Sie sagte: „Ich habe sie aus einem Kellerfenster genommen. Bei uns in der Küche ist eine entzweigegangen. Heutzutage kann man wohl so etwas tun. Es wird kaum jemand hierher zurückkommen und diese Scheibe suchen."
    Er bewegte unbestimmt die Schultern. Er wollte sagen, daß in diesem Dorf vielleicht überhaupt kein Stein auf dem anderen bleiben würde, wenn erst einmal die Front aufwachte und der Krieg weiterging. Aber er sagte das nicht, sondern: „Eigentlich wollte ich Sie heute besuchen. Nun habe ich Sie getroffen ..."
    Irgend etwas an der Frau kam ihm verändert vor. Sie schien nicht mehr so abweisend zu sein wie damals, nicht mehr so auf Abstand bedacht. Aber er war nicht sicher, ob er sich nicht irrte. Er hörte die Frau sagen: „Warum kommen Sie nicht? Wo ist Ihr Kamerad?"
    „Fort. Beim Divisionsstab."
    „Dann kommen Sie. Kommen Sie mit." Sie lächelte wieder dabei. Er sah sie ein paar Sekunden lang stumm an. Sie war nichts weiter als eine Frau, die lächelte. Sie stand vor ihm, an das Holz gelehnt, die Scheibe unter dem Arm, und sah ihn an. Eine Frau mit einem reifen, vollen Körper und einer Stimme, die angenehm klang. Er begriff im gleichen Augenblick, er hätte längst wieder zu ihr gehen sollen. Er entschied sich schnell.
    „Warten Sie, ich muß nur meinem Zugführer sagen, wo ich bin. Warten Sie, bitte!"
    Er lief davon, und die Frau blickte ihm nach. Als er zwischen den Häusern verschwunden war, legte sie die Glasscheibe vorsichtig auf die Bank und blickte auf die gefrorene Dorfstraße. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
    Bindig stürzte atemlos in Timms Quartier. Der Unteroffizier saß an einem zerkratzten Tisch und las in einer Zeitung.
    Die Stube war stark geheizt, und er war in Hemdsärmeln. Bindig blieb in der Tür stehen und legte die Hand an die Mütze, aber Timm drehte sich nur halb um, sah ihn an und forderte ihn auf: „Machen Sie die Tür zu! Es wird kalt!"
    Bindig atmete tief und sagte: „Herr Unteroffizier, ich möchte mich für heute abend abmelden."
    „Abmelden?" fragte Timm. Er drehte sich auf seinem Schemel um und sah Bindig an. „Wohin?"
    „Ich bin eingeladen worden."
    „Wohin?"
    Warum soll ich es ihm nicht sagen? dachte Bindig. Warum eigentlich nicht? Ich brauche mich nicht zu schämen.
    „Zu der Frau, die in dem Gehöft hinter dem Dorf wohnt", sagte er.
    Timm blinzelte ihn an und musterte ihn vom Kopf bis zu den Schuhen. Dann fragte er beinahe gemütlich: „Zu der Frau, die in dem Gehöft hinter dem Dorf wohnt? Eingeladen?"
    „Jawohl", sagte Bindig.
    „Hm!" machte Timm. „In Ordnung. Wie heißt die Frau?"
    Er grinste, als er bemerkte, wie Bindig die Röte ins Gesicht schoß. Er wartete ein paar Sekunden, aber Bindig konnte nichts sagen. Dann lachte Timm laut auf.
    „Sie sind richtig! Geht zu einer Frau schlafen und weiß nicht, wie sie

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