Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
nahe. Sie drängte sich an ihn, und er spürte ihre Wärme. In ihrem Atem war noch der Wein, den sie getrunken hatte. Sie sagte: „Ja. Wenn du morgen früh von mir fortgehst, dann will ich wissen, daß du wiederkommst."
    Er wollte sie mit einer wilden, ungestümen Bewegung an sich pressen. Aber es wurde nichts als ein sanfter, lange währender Kuß. Dann strich sie ihm das Haar zurück. Er spürte noch den Geschmack ihrer Lippen, als er sagte: „Ich kann mich jetzt ganz deutlich daran erinnern, wie ich dich zum erstenmal sah..."
    Sie legte ihm den Finger auf den Mund.
    „Still..." Als er verstummte, sagte sie nachdenklich: „Wie jung bist du. So jung - und viel zu schade für das alles, was sie mit dir machen..."
    Er begriff sie nicht. Aber es war, als sei mit einem Male irgendein geheimer Mechanismus in ihm in Gang gesetzt worden. Er spürte wieder, daß er Sehnen besaß und Muskeln, und er spürte auch, daß sie gehärtet waren von den Bodenrollen und Klimmzügen, vom Aufprall auf der Matte unter dem Sprungturm und vom Ruck der Leinen, wenn der Schirm sich öffnete. Vom Kriechen auf dem gefrorenen Boden und von jenem klammernden Griff der Hände, die die Maschinenpistole gepackt hielten oder das Messer. Er spürte mit einem Male eine unbändige Kraft, und er nahm die Frau und hob sie auf seine Arme.
    Sie wollte ihm Einhalt gebieten, aber es war nur eine schwache Geste. Sie wies auf den Tisch mit den Gläsern.
    „Laß mich das abräumen, du ..."
    Er lachte nur, während er sie quer durch die Küche trug. Er hatte alles vergessen, was um dieses Haus herum war, was morgen und übermorgen sein würde. Mit der Schulter stieß er die Küchentür auf. Er wußte nicht, wo die Schlafkammer lag. Aber er brauchte nicht danach zu fragen; sie flüsterte es ihm zu.
    Die Kälte kroch durch die Ritzen der Fenster. Die Kammer war ungeheizt, und eigentlich war es gar keine Kammer, sondern ein geräumiges Zimmer. Es war nicht ganz dunkel, denn die beiden Fenster waren nicht verhängt, und von draußen fiel ein Schimmer von jener Helligkeit herein, die der Schnee verursachte. Wenn Bindig sich bewegte, spürte er den Körper der Frau. Sie lag so dicht an ihn geschmiegt, daß er ihren Atem hören konnte. Die Frau lag still, mit offenen Augen. Sie hatte das Deckbett bis hoch über die Brust gezogen und die Arme darunter verborgen. Bindig ertrug das Deckbett nicht. Er hatte es abgestreift. Die trockene Kühle des Zimmers tat seinem Körper wohl.
    „Du wirst dich erkälten", sagte die Frau leise, „die Stube ist kalt..." Sie wollte seinen Körper bedecken, aber er hielt ihre Hand fest. „Mir ist nicht kalt."
    „Du wirst krank werden", redete sie auf ihn ein. Sie richtete sich ein wenig auf und blickte ihm in die Augen. Er zog sie an sich und küßte sie.
    „Nur noch ein paar Stunden...", flüsterte sie. Er strich über ihren Körper, und trotz seiner zerschundenen Handflächen spürte er die weiche, warme Haut. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und wiederholte: „Nur noch ein paar Stunden..."
    Es war, als wäre ihre Stimme meilenweit entfernt. Er hörte sie, wie er manchmal eine Stimme aus dem Radio des Funkwagens im Kopfhörer hörte. Aber die Frau war neben ihm. Sie lag leicht an ihn gelehnt, und er konnte den Hauch ihres Atems an seiner Brust spüren.
    „Du ...", sagte er, „Anna, wie war das eigentlich? Morgen oder übermorgen werde ich denken, es sei alles nicht geschehen, und ich habe nie bei dir gelegen ..."
    „Es ist gut so", sagte sie, „ich habe es gewollt, und du hast es gewollt. Es
    ist gut."
    „Willst du schlafen?" fragte er.
    Sie antwortete nicht, und er sagte: „Vielleicht ist es das letztemal, daß wir beisammen sind. Wer weiß, was in den nächsten Tagen passiert..."
    Sie sagte nichts. Aber sie brachte ihren Körper so nahe an den seinen, daß er spürte, wie sein Blut schneller zu pulsieren begann.
    „Es ist eine gute Erinnerung", sagte er langsam, „wenn ich morgen an dich denke, wird es eine gute Erinnerung sein. Ich habe nicht viele gute Erinnerungen, und vielleicht gehe ich diesmal drauf, dann ist wenigstens..."
    „Still...", rief sie leise. „Sei still davon. Es passiert dir nichts I"
    Er lachte, aber es klang wenig heiter. „Ich mache nicht gerade einen Spaziergang. Und die Russen schießen nicht mit Erbsen,.."
    Er wußte selbst nicht, weshalb er das jetzt sagte, denn er hatte nie die Angewohnheit gehabt, vor einem Einsatz davon zu reden, daß es ihn erwischen könnte.
    Anna, dachte

Weitere Kostenlose Bücher