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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Warum?"
    „Das ist auch eine lange Geschichte. Und ebenfalls keine sehr schöne.
    Schmeckt Ihnen der Wein?"
    „Ausgezeichnet."
    „Dann trinken wir doch davon."
    Der Wein war anders als der Genever. Er machte keinen schweren Kopf. Er
    berauschte auf eine angenehme Art. Er ließ die Gedanken leichter fließen und
    die Lippen gesprächiger werden. Er ließ das Lachen aufklingen, und er
    brachte das Vergessen alles dessen, was um dieses Gehöft war, um das Haus,
    um die Stube, in der sie saßen.
    „Morgen werde ich von Haselgarten weggehen", sagte Bindig schließlich.
    Die Frau öffnete den Mund ein wenig. Ihre Frage klang beklommen.
    „Warum? Wohin?"
    „Ich bin Soldat", sagte er, „ich gehe morgen zum Einsatz."
    Die Frau blickte auf ihre Hände. Er hörte sie leise fragen: „Wie lange wird das sein? Lange?"
    Er bewegte leicht die Schultern. Der Wein funkelte in den Gläsern. „Ich weiß nicht, vielleicht nur ein paar Tage. Wenn ich nach ein paar Tagen nicht zurück bin, werde ich nicht mehr kommen."
    „Das soll heißen ..."
    ja", sagte er. „Genau das."
    „Sie müssen wieder hinter die russische Front?"
    Er nickte. Warum sollte er es ihr nicht sagen? Sie war lange genug im Dorf und wußte, daß die Kompanie aus Fallschirmjägern bestand. Das übrige konnte sie sich denken, Und außerdem hatte ihr Zado bereits damals, als sie bei ihr waren, gesagt, was für eine Art von Soldaten sie waren.
    „Es ist grausam ...", hörte er sie sagen. „Man sitzt sich gegenüber und weiß nicht, ob man sich noch einmal sieht. Es ist, als hätten die Menschen vergessen, wie kostbar das Leben ist..."
    Er trank hastig von dem Wein. Die Frau hob auch ihr Glas, aber sie trank diesmal nur wenig.
    „Es hilft alles nichts" versuchte er sie aufzumuntern.
    „Schließlich ist kein anderer da, der es uns abnimmt. Wir sind ganz allein dazu da ..."
    Der Kuckuck krächzte wieder. Er zeigte die zehnte Stunde an. Sie aßen und tranken. Manchmal sprachen sie über irgendeine Belanglosigkeit. Dann wieder saßen sie nur still, und einer sah den anderen an, den Blick verschämt abwendend, wenn er sich mit dem des anderen traf.
    Als die Frau sich einmal erhob und den Fenstervorhang beiseite schob, sagte sie leise: „Es schneit. Das ist der Winter."
    Bindig trat neben sie. Er duckte sich ein wenig, um unter ihrem erhobenen Arm hindurch, der den Vorhang hielt, hinausblicken Zu können. Er berührte sie dabei. Er warf nur einen schnellen Blick auf die Schneeflocken, die im Lichtschein, der aus dem Fenster fiel, durcheinander wirbelten. Er hatte gehofft, daß der erste Schnee noch ein wenig auf sich warten lassen würde. Einen Augenblick lang überlegte er, daß sie beim kommenden Einsatz Schneehemden tragen müßten. Es würde kalt sein. Und es gab Dinge, bei denen man die wärmenden Handschuhe würde ausziehen müssen.
    Während er noch immer staunend spürte, daß die Frau seiner Berührung nicht auswich, hörte er sie sagen: „Wirst du zurückkommen?" Sie sagte es sehr leise, und er verstand sie zuerst nicht. Er dachte über das „Du" nach, mit dem sie ihn anredete. Aber dann begriff er, daß sie hier in diesem Augenblick gar nichts anderes sagen konnte. Eine Frau, dachte er, und sekundenlang war er unschlüssig, was er nun tun sollte. Er hörte ihren Atem. Er spürte ihn im Nacken. Seine Schulter berührte noch immer leicht ihren Arm, der den Vorhang hielt. Die Flocken vor dem Fenster tanzten einen verwirrenden Reigen im matten Lichtschein. Das ist der Winter, dachte Bindig. Dann drehte er sich plötzlich um und sah sie an.
    „Ich habe dich etwas gefragt", sagte sie. Ihre Augen waren groß und dunkel. Sie blickte auf seinen Mund, nicht in seine Augen.
    Er machte eine kleine Bewegung auf sie zu, aber sie wich ihm nicht aus. ja", sagte er langsam, „du hast mich gefragt, ob ich wiederkomme. Ich weiß das nicht."
    Die Frau ließ die Arme sinken. Er sah über sie hinweg, auf den Tisch, wo die Gläser standen. Dann legte er ihr zögernd die Hände auf die Schultern und zog sie an sich.
    „Wie kann ich wissen, ob ich wiederkomme?" fragte er. Die Augen der Frau waren ganz nahe. Aber es war, als seien sie gar nicht so dicht vor ihm, als atme da nicht dieser halbgeöffnete Mund mit den vollen Lippen. So, als wäre alles unendlich weit entfernt und unerreichbar.
    „Gut...", sagte sie schließlich. „Aber ich mußte es dir trotzdem sagen, daß
    ich dich wiedersehen will..."
    „Wiedersehen?" wiederholte er.
    „Ja." Sie war ihm mit einemmal ganz

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