Die Stunde Der Vampire
in die falsche Richtung, von hier aus kann man es nicht sehen.«
Seufzend lehnte ich mich in meinem Sitz zurück, ohne ein Hehl aus meiner Enttäuschung zu machen. Wie frustrierend, so dicht an einem nationalen Wahrzeichen zu sein, und nichts sehen zu können!
Bradley warf mir einen Blick zu. Mit belustigter Stimme meinte er: »Warten Sie zwei Minuten, dann kehre ich um.« Er schaltete den Blinker ein und bog scharf nach rechts.
Moment mal, war er etwa nett zu mir?
In Colorado hatte ich einen ungehinderten Blick in die Ferne gehabt. Der Himmel war weit, und ich konnte nach
Westen sehen und immer die Berge erkennen. Ich wusste immer, wo sie sich befanden, wo ich mich befand. Ich brauchte Orientierungspunkte. Hier, und so ziemlich überall im Osten, wo ich gewesen war, war mir verschwommen klaustrophobisch zumute. Ãberall wuchsen groÃe Bäume und verdeckten den Horizont. Selbst im Herbst, wenn ihre Blätter vertrockneten und abfielen, bildeten sie Mauern, und ich konnte den Himmel nur sehen, wenn ich direkt nach oben sah, nicht nach vorne.
Wir bogen um eine Ecke, und Bradley sagte liebenswürdig wie ein Fremdenführer: »Jetzt nähern wir uns der berühmten Washington Mall. Und zu Ihrer Rechten, das Washington Monument.«
Ich drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Mein Magen krampfte sich kurz zusammen, wie er es tat, wenn ich eine berühmte Persönlichkeit erblickte. Es war wie auf den Bildern, nur gröÃer. Der hoch aufragende Obelisk war hell erleuchtet, und die Lampen verliehen ihm einen orangefarbenen Schein. In der Mitte des gewaltigen Rasenstreifens, der die Mall bildete, stand er einsam in der Dunkelheit.
»Wow!« Ich bestaunte ihn, bis wir um die nächste Ecke bogen und ihn hinter uns lieÃen.
Ich verfolgte unsere Route mit. Kurze Zeit später fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung, wieder auf den Freeway zu, doch wir drehten ab und fuhren weiter nach Westen, bis wir eine ruhige Zeile Reihenhäuser in einer Gegend erreichten, die laut Bradley Georgetown hieÃ. Selbst im Dunkeln konnte ich erkennen, dass das Viertel schön war und alt. Von Bäumen gesäumte StraÃen voller Backsteinhäuser,
mit Lamellen versehene Fensterläden und Blumentöpfe an den Fenstern, mit eleganten schmiedeeisernen Zäunen davor. Die Georgetown University befand sich ganz in der Nähe. Bradley bog zuerst in eine Gasse, dann in eine Auffahrt mit Kopfsteinpflaster, auf der mehrere Autos Platz hatten. Mein Wagen befand sich bereits dort.
Mir war nicht ganz klar, worauf ich mich da eingelassen hatte, bis wir das Haus betraten, nachdem wir ein paar Treppenstufen erklommen hatten und durch eine Hintertür gegangen waren.
Das überraschte mich. Die meisten Vampire, selbst die Oberhäupter von Familien und Städten, schufen sich ein unterirdisches Zuhause. Das minderte die Wahrscheinlichkeit, dass sie oder ihre Gefolgsleute sich versehentlich durch Sonnenstrahlen Verletzungen zuzogen. Doch Bradley und Tom führten mich in das Haus, durch einen Korridor und in einen Salon. Diese Vampirin hielt Hof in einem Zimmer mit Fenstern â zwar mit schweren Brokatvorhängen versehen, aber immerhin Fenster.
Der Raum wirkte gleichzeitig unordentlich und üppig: Er war vollgestopft mit Chaiselongues und Ohrensesseln, Mahagonianrichtetischen, kleinen Abstelltischchen und Sofatischen, manche mit Spitzenläufern, manche mit elektrischen, manche mit Ãllampen. In Vitrinenschränken befanden sich Porzellansammlungen, und auf dem Sims über dem offenen Kamin war ein silbernes Teeservice ausgestellt. Flauschige persische Läufer lagen auf dem Parkettboden. Sämtliche Lampen brannten, wenn auch weich, sodass das Zimmer warm und honigfarben erstrahlte. Inmitten der anderen Verzierungen verstreut befanden sich
Bilder, kleine Porträts, ein paar Schwarz-WeiÃ-Aufnahmen. Von allen starrten einem Gesichter entgegen. Ich fragte mich, wer die Leute waren.
Die Ausstattung überraschte mich nicht. Vampire lebten Hunderte von Jahren; sie neigten dazu, ihre kostbaren Sammlungen bei sich zu haben. Wenn mich das Zimmer an einen viktorianischen Salon erinnerte, lag das vermutlich daran, dass alles tatsächlich aus jener Zeit stammte. Genau wie die Anwesende in dem Zimmer.
Eine Frau legte ein Buch auf einem Tisch ab und erhob sich aus einem Sessel, der beinahe verdeckt am hinteren Ende des Salons stand, in der Nähe eines Bücherregals. Sie war
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