Die Stunde Der Vampire
glaubhaft zu sein.« Ich starrte die unbeschriebene Seite mit dem Briefkopf an, als würde sie jeden Moment die Wahrheit über den echten Flemming offenbaren.
Ben zuckte, nicht im Geringsten eingeschüchtert, mit den Schultern. »Passen Sie nur auf sich auf.«
Zu viele Fragen und nicht genug Zeit, um nach Antworten zu suchen. Ich salutierte ihm spöttisch zu und ging dann davon.
Beim Verlassen des Gebäudes schaltete ich mein Handy wieder ein. Es wurden drei Anrufe in Abwesenheit angezeigt, alle von meiner Mutter. Ich dachte gleich das Schlimmste: Es hatte einen Unfall gegeben. Jemand war gestorben. Rasch rief ich sie zurück.
»Mom?«
»Kitty! Hi!«
»Was ist los?«
»Nichts.«
Ich verdrehte die Augen und unterdrückte etliche Flüche. »Hast du vorhin bei mir angerufen?«
»Ja, ich muss dich etwas fragen, denn dein Vater behauptet, er hätte dich heute Nachmittag auf C-SPAN bei
dieser Anhörung gesehen, die sie über Vampire abhalten. Du sollst im Publikum gesessen haben. Ich habe ja nicht geglaubt, dass das stimmen kann. Du bist nicht auf C-SPAN gewesen, oder?«
Ich zögerte eine Sekunde. Sie würde nicht verärgert sein, weil ich im Fernsehen zu sehen war, sondern weil ich ihr nicht Bescheid gegeben hatte, dass ich im Fernsehen sein würde, und sie nicht sämtliche Verwandte hatte anrufen und den Timer am Videorekorder hatte programmieren können, um das Ganze aufzuzeichnen.
»Dad guckt C-SPAN?«, fragte ich.
»Er hat durch die Sender gezappt«, meinte sie abwehrend.
Ich seufzte. »Ja, wahrscheinlich hat er mich auf C-SPAN gesehen. Ich bin im Publikum gewesen.«
»Na, ist das nicht aufregend?«
»Nicht wirklich. Im Grunde ist es nervenaufreibend. Irgendwann soll ich aussagen.«
»Du musst uns unbedingt Bescheid geben, wann, damit wir es aufnehmen können.«
Das hier war keine Schulaufführung. Doch das würde ich ihr nicht klarmachen können. »Sicher, Mom. Du, ich muss jetzt los. Ich melde mich demnächst, okay?«
»Okay ⦠ich muss deinen Vater anrufen und ihm von der Sache erzählen.«
»Okay, Mom. Tschüss â¦Â«
»Ich hab dich lieb, Kitty.«
»Ich dich auch, Mom.« Ich legte auf. Warum hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich ein Telefonat mit ihr beendete?
Ich hatte keine Zeit, Flemming an diesem Nachmittag aufzuspüren. Ich hatte ein Date.
Um 15 Uhr 55 war ich im Crescent und saà an dem Tisch neben der Bar, ein Mineralwasser vor mir und ein Glas Schnaps vor dem leeren Stuhl gegenüber. Pünktlich auf die Minute betrat der alte Mann den Klub. Nach drei weiteren Schritten blieb er wie angewurzelt stehen und starrte mich an.
Ich hatte nicht nachgefragt, wie lange er schon herkam. Wahrscheinlich lange, bevor Jack hier zu arbeiten angefangen hatte. Wann hatte jemand das letzte Mal seine Routine durchbrochen? An seinem zerfurchten, nervösen Gesicht konnte man beinahe die Gedankengänge ablesen, während er dieses neue Ereignis aufnahm, diese unplanmäÃige Entwicklung in seinem Leben.
Ich nickte einladend in Richtung des leeren Stuhls, allerdings ohne zu lächeln oder ihn direkt anzusehen. Anstarren hätte als Herausforderung empfunden werden können; bei einem Lächeln wären vielleicht Zähne zu sehen gewesen, ebenfalls eine Herausforderung. Ich gab mir Mühe, still und unterwürfig zu wirken, wie ein braver junger Wolf im Rudel. Wenn sein Körper mehr zu seiner Wolfshälfte tendierte, musste ich davon ausgehen, dass dies bei seinem Geist ebenfalls der Fall war, und dass er auf solche Zeichen achten würde.
Langsam kam er auf den Tisch zu und setzte sich auf den freien Platz, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.
»Was willst du?«, fragte er mit deutlichem deutschem Akzent. Seine Stimme klang rau.
»Reden. Ich sammele Geschichten. Etwas in der Art. Ich tippe mal darauf, dass du ein paar ziemlich gute zu erzählen weiÃt.«
»Pah.« Er trank einen Schluck aus dem Glas. »Es gibt nichts zu reden.«
»Ãberhaupt nichts?«
»Du meinst wohl, ein hübsches junges Ding wie du wird das Herz eines alten Mannes erweichen, indem es ihm einen Drink spendiert und errötet? Nein.«
»Ich bin neu in der Stadt«, fuhr ich unbeirrt fort. »Ich bin vorgestern Nacht zum ersten Mal hier gewesen, und ich versuche lediglich, so viel wie möglich in Erfahrung zu
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