Die Stunde der Zaem
Auch ohne Worte verstand der Sohn des Kometen, daß man dem Schrein nahe war.
Seltsame Gefühle durchströmten ihn. Freude und Furcht und so vieles mehr, wofür er keine Erklärung wußte.
Ein Schatten zeichnete sich ab. Zuerst glaubte Mythor, daß man sich einem größeren Gebäude näherte, dann jedoch gaben die unregelmäßigen Umrisse ihm zu denken. Das war etwas anderes.
»Wir sind am Nabel der Welt!« sagte Rii. Mythor hörte nur mit halbem Ohr hin. Er blieb auch nicht stehen, als die Maid ihn sanft zurückhalten wollte.
Jeder Schritt, den er jetzt tat, fiel ihm schwerer als der vorangegangene. Aber er mußte weiter - nichts konnte ihn daran hindern. Zudem hatten Zahdas Andeutungen ihn neugierig gemacht.
Da war eine Treppe, die hinaufführte zu einem weitgeöffneten Tor…
Mit dem Handrücken wischte der Sohn des Kometen sich über die Stirn. Kalter Schweiß rann ihm in die Augen, und obwohl der Schatten zunächst deutlicher wurde, verschwamm er dann hinter flirrender Luft.
Mythor verspürte Übelkeit in sich aufsteigen. Plötzlich fiel es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Zu spät…
Die Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr.
Wie angewurzelt stand er da, den Blick starr auf die Statue gerichtet, die zehn Schritte vor ihm aufragte.
Kein Zweifel - das war Fronjas Schrein, der Ort, an dem sie lebte, von dem aus sie ihre Träume gesandt hatte. Ein gewaltiges Steingebilde, ein Bildnis, das eine sitzende, ummantelte Frauengestalt darstellte.
Die Urmutter Vanga, die gemeinsam mit Gorgan, dem Krieger, die Welt gezeugt hatte? Die Züge ihres Gesichts, die tief eingegrabenen Linien, der Blick ihrer Augen, der jeden zu durchbohren schien und ihr einen Hauch von Leben verlieh - all das ließ keinen anderen Schluß zu.
Die Hände der Statue waren im Schoß gefaltet und zu jenem Tor geformt, das einladend offenstand.
Mythor wußte später nicht zu sagen, wie lange er am Treppenabsatz verharrt hatte, ob nur für die Dauer weniger Herzschläge oder gar eine kleine Ewigkeit. Irgendwann versuchte er mit letzter Kraft, die Stufen zu betreten.
Seine Hände umklammerten Altons Knauf; Zuversicht strömte von dem Gläsernen Schwert auf ihn über. Dennoch kam er nicht weit, brach zusammen, ehe er die ersten beiden Schritte getan hatte.
Seine Sinne schwanden. Daß er hart aufschlug, spürte er schon nicht mehr.
*
Die Eiseskälte war ebenso flüchtig wie alles andere. Eben noch von seinen Ebenbildern bedrängt, fand Gerrek sich jäh an der Grenze zur Lichtinsel wieder. Alles ging viel zu schnell, als daß er hätte begreifen können. Er sah Scida, bleich, zitternd, mit beiden Schwertern in Händen - offensichtlich stand auch sie unter dem Eindruck des Erlebten. War sie ebenfalls gezwungen gewesen, gegen sich selbst anzutreten?
Gerreks Rachen entrang sich ein klägliches Stöhnen. Er zitterte nicht weniger als die Amazone.
Allmählich wurde er sich bewußt, daß noch immer eine kleine Hand die seine festhielt.
»Heeva«, entfuhr es ihm. »Du?«
Die zierliche Aasin nickte.
»Wie konntet ihr nur?« kam es vorwurfsvoll über ihre Lippen.
Gerreks Blick wanderte weiter, blieb fragend an Lankohr hängen, der abseits stand und tat, als gehe das alles ihn nichts an. Er stierte auf seine Füße, während ihm deutlich anzusehen war, wie es in ihm arbeitete.
Gerrek grinste breit und anzüglich.
»Hast du endlich eine Freundin gefunden, die dich…«
Lankohr wandte sich um, woraufhin der Beuteldrache belustigt die Schultern zuckte.
»Eure Torheit übertrifft alles«, sagte Heeva in tadelndem Tonfall. »Glaubtet ihr wirklich, die Lichtinsel betreten zu können?«
Bevor Gerrek etwas erwidern konnte, antwortete Scida. Endlich schob sie ihre beiden Schwerter in die Scheiden zurück.
»Wir mußten es versuchen.«
»Warum? Um Fronja zu sehen oder dem Kometensohn zu folgen? Ihr Narren begebt euch bewußt in eine Gefahr, der ihr niemals gewachsen seid.« In Heevas Stimme schwang echte Besorgnis mit. »Nur in den Gasthäuschen ist es euch erlaubt, die Lichtinsel zu betreten.«
»Dafür blieb keine Zeit«, brummte Gerrek.
»Aber um zu sterben oder den Verstand zu verlieren, hattet ihr genügend Zeit. Ihr dürft von Glück reden, daß ich euch zurückhielt. Doch nicht für euch tat ich es, sondern für Lankohr, damit er endlich sieht, daß ich es ehrlich meine.«
»Oha«, machte der Beuteldrache und kratzte sich den Katerbart, daß es raschelte.
»Danke«, sagte Lankohr und kam näher. Allem Anschein nach scheute
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