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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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der steile Weg voller Felsbrocken war zu viel für den kleinen Fiat. Er musste zurück. Er erinnerte sich dunkel an den zerfallenen Stall, an dem er vorübergefahren war. Vielleicht konnte er die Kartons dort lassen. Warum war er überhaupt so weit den Berg hinaufgefahren? Selbst für einen Geländewagen wäre dieser Weg eine Herausforderung.
    Flucht, dachte er. Ich bin auf der Flucht. Deshalb. Umdrehen konnte er auch nicht. Er musste rückwärts hinunter.
    Als er den Zündschlüssel umfasste, fürchtete er, der Wagen könnte nicht mehr anspringen. Er sprang an. Orecchio schickte einen Dank zur Madonna hinauf. Es ging langsam, der Fiat holperte und rutschte, stellte sich zweimal quer. Als im Rückfenster endlich die Steinhaufen des verlassenen Gebäudes auftauchten, schmerzte Orecchios Nacken. Jetzt wurde der Weg breiter, und auf dem Hof vor der Ruine war Platz genug, um endlich zu wenden. Bloß nicht warten, bis die Panik wieder nach ihm greifen konnte. Aussteigen! Solange er sich bewegte, ging es ihm besser.
    Aber der Haufen grauer Feldsteine erinnerte ihn zu sehr an das Erdbeben. Er presste die Daumenballen gegen seine Schläfen. Hier hatte die Erde nicht gebebt. Diese Hütte war ganz von selbst in sich zusammengefallen. Weil sie alt war und keiner sie mehr brauchte. Er hielt sich aufrecht, horchte nicht mehr auf seine Angst, sondern nach außen, auf die Geräusche des Waldes. Noch immer fielen Früchte von den Bäumen, knisterten Blätter bei ihrem Flug und bei der Landung.
    Zögernd näherte sich Orecchio dem alten Haus, fuhr herum, als wieder ein Ast zu Boden polterte. Oder waren das Wildschweine? Er begriff nicht, warum alles ihm Angst machte, jedes Geräusch, jeder Schatten, die Sonnenflecken, die über ihn hinwegflackerten. Es war, als hätte die Welt um ihn herum eiskalte, spitze Stacheln. Wie die von Seeigeln, die sich in die Haut bohren und abbrechen. Eiskalte Seeigelstacheln. Das war es, was er empfand. Schlimmer noch! Sein Körper fühlte sich an, als steckten überall abgebrochene Stacheln.
    Nicht daran denken!
    Der Steinhaufen war bemoost, er glänzte vor Feuchtigkeit. Auf der rechten Seite stand noch eine Mauer, begrenzte die Andeutung eines Zimmers. Dicke Balken lagen kreuz und quer, dazwischen zerbrochene Dachziegel. Orecchio rutschte auf einem Brett aus, ruderte wild mit den Armen und fing sich im letzten Augenblick. Zwischen den Steinen entdeckte er die Reste einer Kommode und das Gerippe eines Sessels. Vielleicht war das hier gar kein Stall gewesen, vielleicht hatte hier jemand gewohnt, vor Jahren, als die kleinen Bauern noch in ein, zwei winzigen Zimmern hausten und von ein paar Ziegen, Schafen und Schweinen lebten. Wenn das stimmte, dann musste dieses Haus auch einen Keller haben, jedenfalls ein Kellerloch. Nur in Kellern konnte man damals Lebensmittel einigermaßen kühl lagern.
    Jetzt ging es ihm noch ein bisschen besser, obwohl er immerzu diese stachelige Kälte fühlte und unruhig auf jedes Geräusch achtete. Er fand das brombeerüberwucherte Kellerloch auf der Außenseite des Mauerrestes, riss sich die Hände blutig, als er die Ranken zur Seite bog. Im Innern war es zu dunkel, er konnte nichts erkennen. Deshalb lief er zum Wagen zurück und holte seine Taschenlampe. Immer wieder verhakte sich seine Kleidung in den Brombeeren, es dauerte lange, bis er sich endlich zum Eingang des Kellers vorgearbeitet hatte. Im Schein der Taschenlampe öffnete sich ein niedriger, ziemlich trockener Raum mit festen Lehmwänden und gemauerten Gewölbebögen. Der Keller erinnerte ihn an die Etruskergräber, von denen es in dieser Gegend jede Menge gab, und wieder kroch Angst durch seinen Körper.
    Vielleicht machte er alles falsch. Vielleicht war es besser, die Pakete mit nach Hause zu nehmen und zu warten, bis jemand sie abholte. Der Fahrer hatte gesagt: Bring die Ladung in Sicherheit! Aber was war Sicherheit? Und wovor? Vor dem Sturm? Vor der Feuerwehr? Der Polizei? Vor Fabrizio und den anderen Kollegen?
    Plötzlich machten ihn die fallenden Kastanien und Eicheln ganz verrückt. Es klang, als würden Heerscharen durch den Wald genau auf ihn zukommen. Er musste hier weg, hielt die Angst nicht mehr aus. Mit zusammengebissenen Zähnen riss er sich von den Brombeerranken los und schleppte ein Paket nach dem andern in das Gewölbe. Die Kartons erschienen ihm noch schwerer als zuvor. Als er endlich den letzten in das Versteck schieben wollte, hielt er inne.
    Vielleicht wäre es klug, nachzusehen, was er da

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