Die Stunde der Zikaden
eigentlich versteckte. Dann würde er sich nicht mehr so ausgeliefert fühlen, hätte die Sache besser im Griff. Oder auch nicht. Er wusste einfach nicht, was er machen sollte. Er horchte in den Wald hinein, und es schauderte ihn. Endlich griff er nach dem letzten Paket und zog es wieder ans Licht. Nein, er konnte es nicht öffnen. Sie würden es sofort sehen. Breites Klebeband war mehrfach um den Karton gewickelt. Er müsste es mit einem Messer durchtrennen. Es ging nicht.
«Lass es, Ernesto!» Selbst der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn.
Trotzdem schüttelte er das Paket. Nichts bewegte sich darin. Es schien vollkommen ausgefüllt zu sein, wie ausgegossen.
Goldbarren, dachte er. Vielleicht Goldbarren. Würde passen. Reiche Leute, die ihr Vermögen in Sicherheit bringen. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass zweimal im Monat so viele Goldbarren nach Il Bosco geliefert wurden. Wieso eigentlich unwahrscheinlich? Vielleicht hatte einer der Reichen ein unterirdisches Lager für Goldbarren angelegt. Denen traute Orecchio alles zu. Einer von denen hatte einen Weinkeller für achthundert Flaschen in den Sand unter seiner Villa buddeln lassen. Das hatte Fabrizio erzählt. Es gab auch unterirdische Garagen für Autos und Yachten. Warum also nicht für Goldbarren?
Orecchio strich mit den Fingerspitzen über den Karton. Unter seinen Nägeln klebte Erde von der Arbeit am Morgen. Der Karton war nicht groß, nicht so wie die anderen, die er kaum tragen konnte. Das war auch schwer zu verstehen. Warum hatten die Pakete so unterschiedliche Größen? Zögernd schob Orecchio den kleinen Karton wieder zum Kellerloch. Vielleicht war es doch besser, nichts zu wissen.
Kaum hatte er sich erhoben und die Hände nach den Brombeerranken ausgestreckt, um den Kellereingang zu tarnen, da griff er plötzlich erneut nach dem kleinen Paket, vielmehr es griff, etwas in ihm griff zu. Dieses Es brachte ihn dazu, den Karton zum Wagen zu tragen und auf dem Rücksitz unter einer alten Decke zu verstecken. Erst dann kehrte er zum Keller zurück, breitete sorgfältig Zweige und alte Latten über den Eingang, bis er sicher war, dass niemand Verdacht schöpfen konnte. Noch einmal lauschte er in den lärmenden Wald hinein. Das Plumpsen, Rascheln, Knistern schien immer lauter zu werden. Orecchio hielt sich die Ohren zu und flüchtete in den Fiat. Er verschloss die Türen und blieb ein paar Sekunden still sitzen, ehe er sich aufraffte und zurück nach Portotrusco fuhr.
ALS LAURA ZUM HAUS zurückkehrte, war Angelo nicht mehr allein. Die Terrassentür stand offen, und Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer in den Garten. Sie erwarteten niemanden, aber vielleicht war einer der Wachmänner zurückgekommen, um von den Sturmschäden zu berichten. Unschlüssig blieb Laura stehen und überlegte kurz, ob dieser Besucher etwas mit der Leiche am Strand zu tun haben konnte. Verborgen unter den tiefhängenden Zweigen der Tamarisken horchte sie, konnte aber nichts verstehen. Deshalb wartete sie einfach und betrachtete das Haus. Vom ersten Augenblick an hatte Laura es gemocht. Mit seinen schrägen ockerfarbenen Mauern schien es aus der Düne herauszuwachsen. Treppen und Terrassen ließen es viel größer erscheinen, als es tatsächlich war, fast wie ein Stück, das man aus einer verwinkelten Altstadt herausgeschnitten hatte. Eine knallrote Bougainvillea kletterte an der linken Hauswand bis zum Dach hinauf. Der Sturm hatte die meisten Blüten zu Boden geworfen und einen bunten Teppich daraus gemacht. In einer Nische, rechts von der Terrassentür, führte eine schmale Treppe zum Schlafzimmer im ersten Stock.
Laura schlich sich hinauf, wusste selbst nicht, warum sie nicht einfach durchs Wohnzimmer ging und herausfand, wer der Besucher war. Sie warf das bunte Tuch des Afrikaners, die Ohrringe und die Sonnenbrille aufs Bett und lauschte noch einmal. Die Tür stand halb offen, trotzdem konnte sie noch immer nichts verstehen. Nur, dass der Besucher ein Mann war, sie hörte eine tiefe Stimme, die nicht Angelos war.
Auf Zehenspitzen lief sie ins Esszimmer hinüber und näherte sich vorsichtig der Balustrade, von der aus man den Wohnraum überblicken konnte. Sie bewegte sich dabei so langsam und lautlos, dass der große Fremde sie nicht bemerkte, obwohl er in ihre Richtung schaute. Allerdings war seine Aufmerksamkeit nicht nach oben gerichtet, sondern offensichtlich auf Guerrini, der allerdings nicht in Lauras Blickfeld war. Er musste unter dem Esszimmer stehen,
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