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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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das wie ein Balkon in den Raum gebaut war.
    Der Fremde wirkte sehr blass, etwas Müdes ging von ihm aus. Sein dünnes, dunkles Haar war glatt nach hinten gekämmt, und er trug einen auffälligen schmalen Bart, der Mund und Kinn umrahmte. Seine Stimme klang ungewöhnlich weich und tief, auch von seiner Art zu sprechen ging eine seltsame Müdigkeit aus. Selbst sein Körper erschien irgendwie schlaff, dabei war er nicht dick. Unter seinem gelben Polohemd zeichnete sich nur der Ansatz eines Bauches ab. Laura schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als Angelo, zwischen fünfzig und sechzig. Der Mann sprach so leise, dass Laura ihn noch immer nicht verstehen konnte.
    Jetzt trat Angelo aus dem Schutz des Balkons und stützte eine Hand auf die Lehne des großen Polstersessels. Laura sah ihn nur von hinten, aber wie jedes Mal, wenn sie ihm unvermutet begegnete, war sie entzückt. Ja, es war Entzücken – über seine Art, dort zu stehen, die Art, wie er den Kopf leicht beugte, sich übers Haar strich und dann eine etwas ratlose Geste machte. Dieses Gefühl hatte sich nicht verändert, seit sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Sie erinnerte sich sogar an ihre nicht besonders respektvollen Gedanken von damals: Bernsteinaugen. Schade, wenn er schwul wäre.
    Seitdem näherten sie sich einander an und entfernten sich wieder. Immer schwankend zwischen vertraut und fremd, fremd und vertraut. Die Vertrautheit hatte zugenommen. Oder? Wenn sie Guerrini aus dieser Entfernung betrachtete, war er ein reizvoller Fremder, dessen Existenz sie erstaunte und begeisterte. Aber so erging es ihr eigentlich mit allen Menschen, die ihr etwas bedeuteten: Sie bestaunte auch die vertraut-fremde Eigenständigkeit ihrer Kinder Luca und Sofia, die sich immer schneller veränderten, je älter sie wurden. Aber sie erschrak auch häufig vor den Gesichtern anderer, selbst vertrauter Menschen, erschrak vor der Bitternis, Härte, Grobheit, die das Leben in sie modellierte.
    «Ah, es ist wirklich gut, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Warum bist du so lange nicht mehr gekommen? Erinnerst du dich, wie ich dir das Schwimmen beigebracht habe, Angelo?»
    Jetzt konnte Laura ihn endlich verstehen. Ein Jugendfreund? Ich weiß so wenig von Angelo.
    «Nein, du hast es mir nicht wirklich beigebracht, Enrico! Ich erinnere mich vor allem daran, dass du mir die Beine weggezogen hast und ich ziemlich viel Salzwasser schlucken musste. Und daran, dass mein Vater dir in den Arsch getreten hat.»
    Laura musste lächeln. Entwarnung. Tatsächlich ein Jugendfreund. Trotzdem empfand sie eine merkwürdige Hemmung, zögerte, nach unten zu gehen und als Angelos Freundin aufzutreten.
    «Man merkt, dass du Commissario bist. Starke Worte. Brauchst du wahrscheinlich bei deinen Verbrechern! Die musst du auch in den Arsch treten, was?» Der große Mann stieß eine Art Knurren aus, das wohl ein Lachen sein sollte. Enrico war also sein Name. Der Ton der beiden klang nicht nach besonders großer Wiedersehensfreude.
    «Selten, aber es kommt vor», erwiderte Guerrini kühl. «Und was machst du so?»
    «Willst du mir weismachen, dass dein Vater nie darüber gesprochen hat, dass wir zusammenarbeiten?»
    «Nein, naja, doch. Er hat irgendwas erzählt, dass Nachbildungen der Madonnenreliefs von della Robbia in Amerika sehr beliebt sind und dass er ab und zu eine Lieferung in die USA schickt, weil sein alter Freund …»
    «Ja, genau! Der alte Freund war mein Vater, aber als der vor drei Jahren starb, habe ich das übernommen. Das heißt, eigentlich schon viel früher. Hat er das nie erzählt?»
    Laura sah, wie Guerrini den Kopf schüttelte.
    «Das versteh ich nicht. Redet ihr denn nicht miteinander, du und Fernando?»
    «Natürlich reden wir miteinander, aber nicht über seine Geschäfte!»
    Wieder stieß der Mann sein knurrendes Lachen aus, und Laura zog sich leise ins Badezimmer zurück. Sie wollte das Gespräch nicht länger belauschen, es kam ihr indiskret vor. Nachdem sie den Sand von ihren Füßen gespült hatte, betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. Auch ihr Haar hatte sich im feuchten Brandungsnebel gelockt, und ihre Gesichtshaut sah frisch aus. Rosig, dachte sie. Kein Bedarf an Rouge, wie so häufig in München nach schlaflosen Nächten und endlosen Ermittlungen. Plötzlich hatte sie Lust, Angelos vermeintlichen Jugendfreund zu beeindrucken. Sie bürstete ihr hellbraunes Haar, bis es in weichen Locken auf ihre Schultern fiel, schminkte die Augen ein bisschen stärker als

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