Die Stunde der Zikaden
kaum gegen den Himmel abhoben. Unheimlich sah das alte Portotrusco aus, wie es dunkel über den gelben Neonlampen der Hafenstraße aufragte. Im Oktober wurde es nicht mehr angestrahlt. Waren ja kaum noch Touristen da.
Noch einmal überprüfte er die Straße. Niemand zu sehen, nicht mal eine Katze, deshalb wagte er, das Fenster zu öffnen und schnell die Läden heranzuziehen. Riegel vor. Das war’s.
Jetzt konnte er Licht machen. Es war sehr weiß und blendete ihn. Orecchio setzte sich aufs Bett und betrachtete die Kerbe in seinem Schienbein. Er fühlte sich extrem schlecht, war hungrig, durstig und fror, obwohl der Schweiß des Nachmittags noch an ihm klebte. Aber er konnte einfach nicht aufstehen, duschen, sich Pasta kochen oder ein Glas Wasser trinken. Er musste erst noch etwas anderes erledigen. Es musste ihm im Schlaf eingefallen sein: der Stierkopf! Er musste den Stierkopf genauer untersuchen. Vorhin hatte er sich nicht getraut.
Orecchio gab sich einen Ruck, rutschte vom Bettrand und kniete nieder. Doch so kam er nicht mehr an das Paket heran. Zu weit hatte er es nach hinten geschoben. Er stand auf, lief in die Küche und holte den langstieligen Besen. Auf dem Bauch liegend, angelte er nach dem Paket und schaffte es endlich, das Ding nach vorn zu ziehen. Plötzlich zitterte er vor Schwäche.
Unterzuckert, dachte er. Seit seiner Kindheit litt er schnell an Unterzuckerung. Er trug das Paket in die Küche und stellte es wieder auf dem Tisch ab. Dann riss er den Kühlschrank auf, griff nach einer Salami und biss gierig hinein.
Kurz darauf ging es ihm besser. Er wischte sich die Hände ab, öffnete das Paket und wickelte den Stierkopf aus. Aufmerksam ließ er seine Fingerspitzen über das glatte kühle Metall gleiten, drehte den Kopf um und hielt ihn ans Licht. Nichts. Er hatte sich offensichtlich getäuscht. Es gab keinen Hohlraum, keine verborgene Öffnung. Und doch … Er schüttelte die Skulptur und hielt sie dabei dicht an sein rechtes Ohr. Nein, nichts. Orecchio stellte den Stierkopf auf den Tisch zurück und biss nochmal von der Salami ab. Während er kaute, ließ er den Kopf nicht aus den Augen, und dann hatte er’s! Die Hörner des Stiers waren sehr groß und dick. Mit einem Seufzer, der fast wie ein Schrei klang, umfasste Orecchio das linke Horn mit einer Hand, hielt den Schädel mit der anderen fest und begann zu schrauben. Er benötigte seine ganze Kraft und wollte schon aufgeben, als sich das Horn plötzlich zu drehen begann. Es dauerte lange, bis es sich ganz vom Schädel löste. Da war der Hohlraum, den er suchte. Der gesamte Schädel war ein Hohlraum, und drinnen war genau das, was Orecchio befürchtet hatte. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und trank den Wein gleich aus der Flasche.
Alle Restaurants, die Guerrini ansteuerte, waren geschlossen, und so landeten sie gegen neun Uhr in der kleinen Pizzeria am Hafen, die sie gleich zu Beginn ihrer Odyssee entdeckt hatten. Drinnen war es heiß und neonhell, die Scheiben waren beschlagen. Es roch nach frischem Hefeteig, im Pizzaofen brannte ein offenes Feuer. Am Ende des langgezogenen Raums saß eine Gruppe von Männern unterm Fernseher. Keiner von ihnen achtete auf das Programm, sie unterhielten sich lautstark. Als Guerrini und Laura eintraten, drehten sich alle nach ihnen um.
«Buona sera», rief Guerrini ihnen zu. Sie murmelten eine Erwiderung.
«Gibt’s hier was zu essen?»
Ein schlanker Mann mit Halbglatze und dunklen Bartschatten auf Wangen und Kinn erhob sich und kam langsam auf sie zu. Hüftabwärts trug er eine lange dunkelgrüne Schürze.
«Was wollt ihr denn?»
«Habt ihr außer Pizza noch was anderes?»
«Ich kann euch Pasta machen, Scaloppine könnten auch noch da sein.»
«Was für Pasta?»
«Frutti di mare, scampi, salsa di lepre, al pesto, alla carbonara.»
«Nicht schlecht! Was nimmst du?» Guerrini wandte sich Laura zu.
«Pasta con scampi! Und ein Zitronenschnitzel mit Salat.»
«Ich nehme salsa di lepre und ebenfalls ein Zitronenschnitzel mit Salat. Außerdem einen halben Liter Weißwein und ein Wasser. Mille grazie, wir sind nämlich am Verhungern.»
Der Wirt zog die Schultern hoch und spreizte die Finger. «Die Saison ist vorbei, Signori. Dann ist es hier, als hätte es nie Touristen gegeben. Wie Winterschlaf, verstehen Sie? Und nach diesem Sturm sind sowieso alle weg. Wo kommt ihr denn auf einmal her? Auf der Durchreise?»
Laura und Guerrini ließen sich an einem Tisch nah am Feuer nieder.
«Sie werden’s
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