Die Stunde des Adlers (Thriller)
oft noch Angehörige der alten politischen Klasse. Gerade Marx schien so ein unverbesserlicher Überzeugungstäter zu sein. »Fast so wie sein Namensvetter Karl«, hatte Roth in einem Anflug intellektueller Höhe gestern Abend zu seiner Vordenkerin gesagt.
»Eine kleine Reform der Einkommensteuer nach der Währungsreform könnte da vielleicht helfen, da die Kirchensteuer direkt an der Einkommensteuer hängt«, hatte sie darauf entgegnet. Kuhn hatte für jeden, der noch auf Linie gebracht werden musste, einen Plan: die Banken, die Kirchen und auch für die Gewerkschaften, wenn die unteren Lohngruppen aus der Steuererhöhung ausgespart würden. Nur von der Deutschland-Prämie erwähnte die schwarze Pest kein Wort, wenn es nicht unausweichlich war.
Anerkennend hatte Roth, der ausnahmsweise mal wieder ein Wochenende bei seiner Familie verbrachte, sich überlegt, dass er sich für diese Idee morgen Abend noch selbst bedanken wollte. Dass Kuhn dann aber wieder in Frankfurt weilen würde, hatte der Bundeskanzler glatt vergessen. Mit einem »Ich bestelle dich einfach für 22 Uhr noch zu einer Sitzung ins Kanzleramt und schicke dir einen Vogel aus der Flugbereitschaft« hatte der seinen Gedankenfehler wieder ausgemerzt. Kuhn ließ ihm diese kleinen Demonstrationen der Macht mit der Flugbereitschaft. Sie musste ihn bei anderen, wichtigeren Dingen steuern, wozu das Bett oft die richtige Steuerungseinheit war. Insofern kam sie nur zu gerne in dieser so wichtigen Woche noch einmal auf den Kanzler selbst zurück.
Aber über Marx hatte sie ihr Handy vergessen und ausgerechnet auf dem Kardinal liegen lassen. Fröstelnd und etwas schlaftrunken ließ sie sich mit ihrem iPhone wieder in ihr Bett zurückfallen, das lange schwarze Haar verteilte sich breit über das weiße Laken. »Mr. Anonymus« hatte kein Bild und keine Nummer auf ihrem iPhone, als sie die Nummer auf ihrer Mailbox wählte. Sein Name war Programm, denn er war Kuhns Kontakt zu ihren Freunden. Wie immer aber hatte Mr. Anonymus, wenn er etwas von ihr wollte, eine Nachricht hinterlassen: »Need to see you. Same procedure«, krächzte eine künstliche Stimme auf ihrer Mailbox.
»Scheiße.« Kuhn hatte alles andere im Sinn, als Mr. Anonymus ausgerechnet heute Nacht zu treffen, dem Tag, an dem der Showdown mit von Hartenstein in Frankfurt beginnen sollte. Von heute an sollte alles schneller gehen, wenn das Sicherheitskabinett zugestimmt hatte. Die Zeit drängte, und sie wollte keine mehr verlieren.
Im Aufstehen schickte sie einen Smiley an die Prepaid-Nummer. Von jetzt an, da sie das vereinbarte Okay-Zeichen gesimst hatte, hatte sie genau 60 Minuten Zeit. Fünf Minuten später saß sie in Sportsachen in ihrer schnittigen A-Klasse und düste Richtung Tiergarten.
1.00 Uhr
Dass auch ihr Frankfurter Gegenspieler keinen Schlaf fand, konnte Kuhn nicht ahnen. Fast hätte von Hartenstein seinen Laptop vor Wut zusammengeklappt, sich dann aber gerade noch besonnen. Gegen 1 Uhr am Morgen gab er auf. Auch wenn er mit einem PC durchaus umgehen konnte, so überstieg dieses Zusammenschneiden seine Fähigkeiten bei Weitem. Italiener, Polen, Türken. Gold, Geld, Boden. Junge, Alte und viele Deutsche. Wie sollte er das alles zusammenbekommen?
»Sind Sie vielleicht noch wach, Hutter? Dann rufen Sie mich bitte sofort an. Ist dringend!« Von Hartenstein war normalerweise kein In-der-Nacht-Simser, aber wenn er machen wollte, was er vorhatte, brauchte er doch Hilfe. Und die am besten sofort, schließlich rannte ihm die Zeit davon. Insgeheim hoffte von Hartenstein, dass sein junger Assistent vielleicht noch nicht schlief. Tat er auch nicht, er lag in den Armen von Miss Occupy, die er seit seinem famosen Auftritt am Samstag nicht mehr losgelassen hatte. Inzwischen befanden sie sich aber in seinem Bett, das deutlich bequemer war als das Gestell im Zelt. Außerdem war eine Zeltnachbarin wieder zurück. Hutter stutzte, als er einen Blick auf sein iPhone warf, löste sich aus den Armen der schlafenden Melanie und wählte bereits im Aufstehen die Nummer seines Chefs.
»Hutter, gut, dass Sie noch wach sind.«
»Was gibt es denn so Dringendes mitten in der Nacht?«, fragte dieser leise.
»Sind Sie allein?«
»Wieso?«
»Weil Sie so leise sprechen.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein, sorry. Ich brauche Sie, Hutter.«
»Wofür?«
»Kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht am Telefon.«
»Wie soll ich dann etwas machen?«
»Können Sie um 6 Uhr in meinem Büro sein?«
»Uh.«
»Ist
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