Die Stunde des Adlers (Thriller)
rannten um diese Zeit nur noch sehr wenige Läufer vorbei an Siegessäule, amerikanischer Botschaft, Brandenburger Tor und Kanzleramt. Praktischerweise hatte Kuhn sich direkt dort umgezogen, nachdem sie es dem Herrn Bundeskanzler noch schnell besorgt hatte.
Der Regierungschef war mal wieder sehr nervös gewesen, weil morgen der französische Staatspräsident Émile Dévrent nach Berlin kommen würde. Und da Anna morgen wirklich nicht dabei sein konnte, hatte sie ihn heute Abend noch einmal auf ihre unnachahmliche Art und Weise in einer weiteren Nachtsitzung vorbereitet.
Der Rest von Europa ahnte, dass das Währungsspiel ein Ende haben könnte. Hatte man es erst mit Parallelwährungen wie Geuro, Eeuro oder Peuro in den Problemstaaten versucht und dann den Grexit für Griechenland finanziert, stand nun der ultimative Ausstieg am dunklen Horizont. Wenn Deutschland die Zahlungsbereitschaft aufkündigte, wäre das der Exitus des Euro. Es war halt etwas anderes, ob man nicht mehr konnte oder ob man nicht mehr wollte. Und Deutschland wollte nicht mehr für die anderen geradestehen.
»Nur dass du dem Franzosen nicht sagen musst, dass wir auf diese Weise einen deutschen Exit machen, mein großer Hengst,« Kuhn baute die ihr wichtigen Punkte immer leicht vulgär zwischen zwei Schenkelbewegungen ein, »denn wir bieten ja nur ein zusätzliches Zahlungsmittel an. Vielleicht können wir später dann wieder hilfsbereiter sein.« Als sie ihn fest mit den Schenkeln umklammerte und seinen Kopf wie in einem Schraubstock zwischen ihre Hände nahm, schob sie lachend noch ein letztes Argument hinterher: »Und bei uns heißt der Deuro gleich D-Mark und wird dann wie von selbst der Exitus des Euro, ohne dass wir einen Dexit machen, ohne dass wir wirklich etwas dafür könnten. Es ist ganz, ganz einfach, Franz. Du musst den Franzosen nur noch einmal hinhalten.« Zur Unterstützung presste sie jeweils, wenn sie »ganz« sagte, ließ dann plötzlich vom Kanzler ab und machte sich zu dessen Verwunderung mit einem »Ich brauche noch ein bisschen Bewegung« zum Joggen auf. Lust hatte sie zwar nicht, aber sie musste noch dringend Mr. Anonymus treffen. Der hatte sie – wie verabredet – auf der langen Geraden hinter der Siegessäule eingeholt.
»Sie wollten mich sprechen?« Beide schienen die gleiche Kleidung zu tragen, in der sie sich vor knapp 48 Stunden hier schon einmal getroffen hatten. Mr. Anonymus ganz in Schwarz mit Sonnenbrille, Kuhn wieder als schwarz-rot-goldenes deutsches Mädel und wieder mit Kopflampe. Die blitzte bei der Übertragung immer so, doch er konnte ihr ja nicht sagen, dass jedes Wort aufgezeichnet wurde. Also stellte sich Mr. Anonymus nach Möglichkeit immer ein bisschen seitlich von Kuhn.
»Nun, wir haben ja einen Deal, oder?«
»Geht es los?«
»Ja.«
»Wann genau?« Unter ihnen knirschte der Kies.
»In der Nacht von Sonntag auf Montag, genau um Mitternacht.«
»Ganz sicher?« Mr. Anonymus wusste, woran die schwarze Pest arbeitete, war aber jetzt doch ein wenig überrascht, wie schnell alles gehen sollte.
»Wetten? Kleiner Scherz.« Den schien Mr. Anonymus aber nicht verstanden zu haben, obwohl er doch schon lange als eine Art Spion für die Freunde des Hedgefonds arbeitete.
Kuhn blieb stehen. »Was glauben Sie denn?«
»Schon gut, meine Auftraggeber müssen nur hundertprozentig sicher sein. Die wollen das Ergebnis vorab kennen. Der Sekundenvorteil zählt, wir legen alles auf diesen Termin.«
»Was meinen Sie denn eigentlich, was ich mache?« Kuhn kannte die Firma seit einem Jahr. Ein unschlagbares Geschäftsmodell hatten die entwickelt: Sicherheitsservice, Geheimdienst, Observationen und Operationen sowie ein angeschlossener Hedgefonds, in dem das ganze legale und illegale Wissen für die richtigen und schnelleren Investitionsentscheide eingesetzt wurde. Kuhns Geheimnis waren ihre anonymen Freunde, so wie Alkoholiker ihre Sucht als Geheimnis bei den Anonymen Alkoholikern aufbewahrt wussten.
Als Kuhn begonnen hatte, die markige Bewegung aufzubauen, war so ein Typ auf sie zugekommen und hatte ihr mit einer persönlichen Traumrendite die Sache schmackhaft gemacht. Und weil der am Anfang mal gesagt hatte, sie seien jetzt Geschäftsfreunde, nannte sie die Truppe ihre Freunde. Wie bei Facebook, wo man auch Typen Freunde nennen konnte, die man gar nicht kannte.
»Wie hoch ist der Abschlag?«
»20.«
»’Ne Menge für eine Deutschland-Prämie.« Mr. Anonymus war das zwar egal, aber er musste die richtigen
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