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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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unterschätzt«, sagte George Harlequin trocken.
    Ashley musterte ihn feindselig.
    »Hören Sie auf, Mann! Hören Sie auf damit! Bedenken Sie, daß ich einen schlechten Tag hinter mir habe. Ich bin bedient.«
    »Das will ich meinen. Sie haben sich mit Experten eingelassen. Und nicht schlecht dabei abgeschnitten.«
    »Auf welcher Seite stehen Sie, Harlequin?«
    »Auf welcher Seite? Mein lieber Freund!« Harlequins Augen waren groß und unschuldig. »Ich stehe auf gar keiner Seite. Meine Regierung ist am Ausgang der Wahlen interessiert.«
    »Und an Orgagna.«
    »Auch das ist richtig. Doch sind unsere Gesichtspunkte flexibel genug …«
    »Oh, um Gottes willen!« Ashley machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Fenster. Er stand da, auf das niedere Geländer gestützt, und sah über das Wasser auf die Lichter der Fischerboote. Von der Halle drang leise Musik herauf. Alle Muskeln schmerzten ihn, und sein Gesicht war verkrampft. Er schloß die Augen, und allmählich ergriffen die Ruhe und die sehnsüchtige Musik Besitz von ihm. Dann hörte er wieder die Stimme hinter seinem Rücken:
    »Es gibt schon eine Antwort auf Ihre Frage, Ashley. Mord wird in England nicht sehr geschätzt. Gegen Diebstahl und Betrug haben wir nichts einzuwenden, solange sie im Rahmen bleiben. Für Mord dagegen haben wir nichts übrig.«
    Ashley richtete sich auf und musterte den kleinen Agenten.
    »Sie glauben demnach, daß Orgagna …«
    »Ich glaube gar nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich mache nur eine prinzipielle Feststellung. Es mag nützlich für Sie sein, sich gelegentlich daran zu erinnern. Übrigens …«
    »Bitte?«
    »Haben Sie nun die Photokopien oder haben Sie sie nicht?«
    »Scheren Sie sich zum Teufel«, sagte Ashley verdrossen und lehnte sich an den Fensterrahmen. Sie waren alle gleich. Sie kannten keine Gnade. Kaum zeigte man ihnen ein Loch in der Rüstung, so stießen sie auch schon zu. Er würde keinem von ihnen trauen. Weder jetzt noch jemals.
    »Wenn Sie sie nicht haben sollten«, sagte Harlequin leise, »dann lassen Sie's Orgagna nicht wissen. Sie sind schließlich Ihre einzige Waffe.«
    Ashley sagte kein Wort. Ihm war übel vor Müdigkeit und Überdruss. Harlequin zog sich zurück. Der dicke Teppich schluckte den Laut seiner Schritte. Ashley hörte die Tür auf- und wieder zugehen, und als er aufblickte, war er allein.
    Er öffnete die Balkontür und trat ins Freie. Kein Lüftchen regte sich. Es war nichts zu hören als das träge, seidige Schlappen der See und die Musik aus der Halle, ein wenig lauter jetzt. Das ziehende Singen der Geigen, der sanfte Schlag der Gitarren. Vor ihm lagen die Lichter von Neapel, unter ihm die Masten der kleinen Schiffe, die sich an die Mole drängten. Er sah die Villen auf den Klippen und die Restaurants, wo die Gäste im Mondschein saßen und von dezenten Kellnern mit müden Augen und bereitwillig blitzendem Lächeln bedient wurden. Auf den Terrassenwegen unter den Orangenbäumen erwachte die Liebe, die allenthalben im warmen Sand und in den dunklen Grotten unter den Klippen blühte.
    Alles war da, wofür ein Mann zu arbeiten und sein Leben zu riskieren bereit ist. Alles, was die Armen und die Trägen und die Verantwortungslosen als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Und all das war unerreichbar für ihn, weil sein Ehrgeiz ihn einen Schritt zu weit getrieben hatte. Weil berufliche Neugier ihn veranlasst hatte, in den Sünden eines anderen zu wühlen, weil eine alte Liebe plötzlich wiedererwacht war und ihn kopfüber ins Unheil gestürzt hatte.
    Was tun?
    Nichts als dastehen und bedauern und warten, daß andere sein Schicksal in die Hand nahmen?
    Wer den Wein des Prinzen trinkt, muß sich mit des Prinzen Kopfschmerzen abfinden – und dankbar sein, wenn der Prinz nicht den Scharfrichter schickt, um sie zu beseitigen.
    In einem Unternehmen wie diesem gab es keine Verbündeten – und keine Freunde. Es gab nur handfeste Interessen.
    Dem Verlag ging es um die Auflage. Die Redaktion wollte Schlagzeilen. Die Kollegen waren mißtrauisch gegen Kreuzritter, und Informanten waren sich der Gefahr, in der sie schwebten, nur allzu bewußt. So war man also allein, allein mit dem verrückten Bedürfnis, etwas Sensationelles zustande zu bringen, sich selbst besser zu erweisen als die Kollegen, und seine Karriere mit dem Heiligenschein eines Apostels zu krönen. Nur allzu leicht vergaß man dabei, daß die Apostel am Kreuz enden und daß man sogar für Judas' Silberlinge eine angenehme Nacht in

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