Die Stunde des Fremden
fallen.
»Während wir uns in Orgagnas Appartement unterhielten, ließ ich einen meiner Beamten Ihr Zimmer durchsuchen. Außer dem hier fand er nichts, was mich interessiert hätte.« Er tippte auf das aufgeschlagene Manuskript, das auf seinen Knien lag. »Ich verstehe genug Englisch, um den Sinn mitzukriegen.«
»Es ist nicht das, was Sie suchen«, sagte Ashley gelangweilt.
»Nein. Aber es verrät mir, was Sie gesucht haben. Es sind da gewisse Lücken, wo geschrieben steht: Photokopie eins einfügen, Photokopie zwei einfügen, und so weiter. Ich würde das Dokument gern behalten.«
»Sie werden es behalten, egal was ich sage«, erwiderte Ashley trocken. »In unserem Büro in Rom liegen zwei Durchschläge davon.«
»Und Sie warten auf die Photokopien. Stimmt's?«
»Stimmt. Würden Sie bitte jetzt gehen und mich endlich schlafen lassen?«
»Erpressung ist ein verdammt schmutziges Geschäft«, sagte Inspektor Granforte.
»Erpressung!« Ashley richtete sich mit einem Ruck auf. »Glauben Sie etwa, ich wollte Orgagna mit dieser Geschichte erpressen?«
»Es spricht sehr viel für diese Annahme, Herr Ashley.«
Granforte hob abwehrend die Hand, als ihn Ashley entrüstet unterbrechen wollte. »Überlegen Sie doch einmal: Warum sollte wohl ein italienischer Aristokrat, ein eminent wohlhabender und einflussreicher Mann, Freundschaft mit einem Journalisten heucheln, der, wie dieses Dokument beweist, ihn zu ruinieren trachtet? Warum sollte er den Schutz seines Namens und die Gastfreundschaft seines Hauses einem Mann anbieten, der ihn mit seiner Frau betrügt?«
»Sie haben kein Recht, das zu sagen!«
»Das habe ich nicht, Herr Ashley?« Granforte lächelte ironisch und breitete seine weichen Hände aus. »Sie haben selbst ausgesagt, Sie seien an diesem Nachmittag nach der ›Zuflucht‹ gefahren, einem beliebten Ausflugsort für Liebespaare. Ebenfalls laut Ihrer Aussage haben Sie dort zwei Stunden zugebracht. Wie nun meine Leute – allerdings nur bei Taschenlampenlicht – festgestellt haben, führen Ihre Reifenabdrücke zur Kapelle. Und dort ist, an einer gewissen Stelle, das Gras zerdrückt. Was soll ich nun davon halten? Können Sie mir eine andere Erklärung anbieten?«
Ashley schüttelte verbissen den Kopf. »Ich bin kein Erpresser. Und ich bin wahrhaftig kein Mörder.«
»Motive haben Sie für beides.«
»Nein!«
»O doch, Herr Ashley. Durch den Mord haben Sie Dokumente in Ihren Besitz gebracht, die Ihnen zu Orgagnas Vermögen ebenso verhelfen wie zu seiner Frau.«
»Verstehen Sie auch, was Sie da sagen? Sie verdächtigen Rossana der Mittäterschaft an einem Verbrechen!«
»Auch diese Möglichkeit habe ich ins Auge gefaßt«, sagte Inspektor Granforte kalt.
Ashley beugte sich vor und vergrub seine Gesicht in den Händen. Er atmete lange und tief aus. Er war geschlagen, und er wußte es. Wohin er sich auch wandte, waren Netze gespannt und Fallgruben ausgehoben. Seine erste Regung war, Granforte die ganze Wahrheit zu sagen und ihn selbst daraus machen zu lassen, was er wollte. Doch hatte er den Gedanken kaum gefaßt, als er auch schon sah, daß ihm das gar nichts einbringen würde. Was er auch sagen mochte – man würde es so lange drehen und wenden, bis es zu einem Werkzeug gegen ihn wurde. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als den krummen Weg zu Ende zu gehen und auf ein Wunder zu hoffen. Er hob den Kopf und grinste Granforte an. »Wollen Sie mich also jetzt mitnehmen, Granforte?«
Der Inspektor musterte ihn seltsam.
»Möchten Sie das, Herr Ashley?«
»Ich bin einfach zu müde, um überhaupt etwas zu wollen.«
Es waren die wahrsten Worte, die er an diesem turbulenten Tag gesprochen hatte, und die bittersten. Granforte schüttelte den Kopf.
»Wenn ich Sie brauche, mein Freund, weiß ich, wo ich Sie finden kann. Gute Nacht und schöne Träume.«
Granforte stand auf, kippte den Rest Whisky hinunter, stülpte sich die Mütze schief auf den Kopf, klemmte das Manuskript unter den Arm und ging.
Vollkommen angezogen lag Richard Ashley auf seinem Bett und starrte zur Decke. Jetzt war er wenigstens allein und nicht mehr der bohrenden Bosheit und dem Stimmengewirr der Inquisitoren ausgeliefert. Jetzt konnte er in Ruhe nachdenken und versuchen, die einzelnen Steine des Puzzlespieles zu einem sinnvollen Muster zusammenzusetzen.
Der erste und wichtigste Stein, derjenige, um den alle anderen sich gruppieren mußten, war die Tatsache, daß Enzo Garofano der Bruder von Elena Carrese war. Der Bruder von
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