Die Stunde des Fremden
angenehmer Gesellschaft verleben kann. Nur ein ganzes Leben kann einen Märtyrer hervorbringen. Und zwanzig Jahre einer Reporterlaufbahn erzeugen höchstens einen armseligen Novizen.
So kam man also dazu – zu diesem Zustand der Isolation und des Inder-Luft-Hängens.
Er grinste unglücklich über sein eigenes Missbehagen und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm ein paar tiefe Züge. Sie schmeckten bitter und unerfreulich. Er schnippte die Zigarette vom Balkon und sah zu, wie der rötliche Punkt hinaus in die Leere torkelte, um schließlich im grauen Wasser unter ihm zu verlöschen.
Dann, plötzlich, hörte er ein Schluchzen.
Es war leise und halberstickt, doch klang der Laut an diesem Ort und zu dieser Zeit so befremdend, daß er ihm deutlicher zum Bewußtsein kam als die Musik.
Er blickte den Balkon entlang. Ungefähr ein Dutzend Zimmer hatten Zugang zu ihm. Nur vier waren erleuchtet – das, vor dem er stand, das Nebenzimmer links, wo Rossana, Orgagna und Inspektor Granforte saßen, ein drittes ganz am anderen Ende und ein viertes rechts nebenan.
Er wußte kaum, warum er es tat – vielleicht nur, um sich von seinem eigenen Kummer loszureißen: er ging leise den Balkon entlang auf die halb angelehnte Fenstertür zu. Die Vorhänge dahinter waren zugezogen. Durch einen schmalen Spalt spähte er in den Raum.
Er sah einen Teil eines französischen Bettes, auf dem wie eine Puppe ein schluchzendes Mädchen lag. Das blonde Haar war wirr, die Schultern zuckten, und das Gesicht hatte sie tief in das Kopfkissen vergraben. Doch er erkannte sie – es war Elena Carrese, die charmante Gefährtin vom Nachmittag, und die düstere, Hasserfüllte Schönheit von der Dinner-Party. Er schob den Vorhang zur Seite und trat ein. Mit zwei Schritten erreichte er das Bett, setzte sich auf den Rand und legte seine Hände auf ihre Schultern. Mit einem Ruck richtete sich Elena auf und starrte ihn mit weitaufgerissenen, schreckerfüllten Augen an. Ihr Gesicht hatte der Kummer zerstört, ihre Stimme war nur ein entsetztes Flüstern.
»Hinaus! Hinaus mit Ihnen!«
Lächelnd klopfte er ihr auf die Schulter, wie man das mit einem Kind tut. Sie stieß ihn von sich und zog sich mit allen Anzeichen des Abscheus von ihm zurück.
»Ich habe Sie weinen hören. Ich bin gekommen, Ihnen meine Hilfe anzubieten.«
»Scheren Sie sich 'raus, oder ich schreie!«
Sie war so völlig außer Fassung, daß sie keinem vernünftigen Wort zugänglich war. Außer Gewalt gab es nichts, was sie beruhigen konnte. Er stand auf und ging zur Tür. Ihr leichter Sieg schien sie zu überraschen. Sie musterte ihn ängstlich und verwirrt. Er blieb stehen und drehte sich um.
»Sie haben versprochen, mit mir heute abend Kaffee zu trinken«, sagte er ruhig. »Mir schien, Sie konnten mich ganz gut leiden. Beim Abendessen sahen Sie aus, als hassten Sie mich. Warum? Worüber weinen Sie?«
In einer anklagenden Geste richtete sie ihre Hand gegen ihn und schrie, während hysterische Tränen ihre Wangen herunterliefen:
»Sie haben ihn getötet! Sie und Ihr herzogliches Flittchen! Sie haben ihn umgebracht, ohne daß er Gnade für seine arme, verdammte Seele hätte erflehen können. Für ein Stück Papier haben Sie ihn ermordet …« Ihre Stimme wurde plötzlich schrill vor Hysterie. Mit einem Satz war er zurück am Bett. Er schlug sie ins Gesicht, rechts und links. Ihre Stimme versagte, sie sank schluchzend auf dem Bett zusammen. Beharrlich und eindringlich begann er auf sie einzureden, in der verzweifelten Hoffnung, mit irgendeinem Wort die Mauer aus Furcht und Hass zu durchdringen.
»Das hat Ihnen Orgagna beigebracht, nicht wahr? Er hat Ihnen das erzählt, damit Sie mich hassen und er Sie als Waffe gegen mich missbrauchen kann. Er hat Sie belogen. Ich habe den Wagen gefahren. Ich war mit seiner Frau unterwegs. Aber ich habe Garofano nicht getötet. Orgagna hat ihn umgebracht. Er ließ ihn direkt vor meine Räder werfen. Ich tat alles, ihn zu retten. Beinahe hätte ich den Wagen über die Klippen gerissen. Aber ich fuhr einfach zu schnell, Sie müssen mir glauben – in Ihrem eigenen Interesse, nicht nur in meinem. Ich habe ihn nicht umgebracht! Orgagna hat es getan – wegen gewisser Dokumente, die Garofano in seinem Besitz hatte. Dokumente, die den Herzog belasteten. Geben Sie mir Zeit, es Ihnen zu erklären. Um Gottes willen, geben Sie mir Zeit!«
Plötzlich schien es, als höre sie ihm zu. Sie hörte auf zu schluchzen. Einen Augenblick lag sie noch mit dem
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