Die Stunde des Fremden
und sah hinaus. Elena lag noch immer unter dem Sonnenschirm. Rossana stand neben ihr und sprach auf sie ein. Sie trug ein baumwollenes Sonnenkleid und einen großen Strohhut. Ein Korb frischgeschnittener Blumen stand neben ihr. Weit hinten sah er Orgagna zwischen den Orangenbäumen vom Strand zurückkommen. Bald würde Mittagszeit sein. Ohne Tullio würden sie nur zu viert essen müssen – eine unglückliche, kleine Gruppe von Menschen, die einander fürchteten und misstrauten. Unter den strengen Blicken eines alten Haushofmeisters, der an nichts glaubte als an Gott und das Haus Orgagna.
Es war eine höchst unangenehme Aussicht, doch irgendwie mußte man damit fertig werden. Und danach, früher oder später, würde Orgagna den nächsten Schritt tun. Er konnte es sich nicht leisten, allzu lange zu warten. Bald würde Inspektor Granforte seinen Gefangenen reklamieren – sei es nun, um ihn unter Mordanklage dem Richter zu übergeben oder um ihn freizulassen – frei, seine Geschichte zu veröffentlichen.
Ashley war schweißgebadet. Wenn er schon nicht ohne Lebensgefahr schwimmen gehen konnte, wollte er sich wenigstens vor dem Essen abduschen. Er zog sich aus, legte frische Wäsche auf dem Bett zurecht und stand lange Zeit pfeifend unter der kalten Brause.
Beim Anziehen hörte er Orgagnas Wagen starten. Das Aufheulen des Motors und das Geräusch der Reifen auf dem Kiesweg verliehen ihm Zuversicht. Allmählich wuchs sein Appetit auf das Mittagessen.
Die Mahlzeit verlief noch förmlicher als am Vortag. Das Personal hatte einen großen Tisch unter dem Sonnenschirm gedeckt. Am Serviertisch regierte Carlo Carrese. Es machte den Eindruck, Orgagna hätte dieses Schauspiel als Ersatz für die fehlende Unterhaltung inszeniert.
Zunächst wurden Hors d'œuvres von erstaunlicher Vielseitigkeit gereicht. Dazu gab es einen trockenen Weißwein von der besten Lage. Dann kam der Fisch. Kleine weiße Filets, die einzeln über einer Spiritusflamme zubereitet wurden, mit einer roten Soße aus Knoblauch, Tomaten und einem halben Dutzend exotischer Gewürze. Danach wurden die Gläser gewechselt. Es gab jetzt einen schweren roten Barolo. Als nächster Gang wurden spiedini auf römische Art aufgetischt, Rindfleisch und Schinken mit Käse, Knoblauch und Petersilie, gratiniert und in Butter gebraten. Dann kamen Gebäck, Käse, Früchte und schwarzer Kaffee mit einem Grand Napoléon.
Es war kein Essen für einen Sommermittag. Aber es erfüllte seinen Zweck. Danach zogen sich die Damen zu einer Siesta zurück, während Ashley und Orgagna nebeneinander in Liegestühlen unter dem Sonnenschirm lagen. Jetzt, dachte Ashley, ist es soweit.
Doch Orgagna schien noch immer keine Eile zu haben. Er steckte die Hand in die Tasche, zog fünf Einhundertdollarnoten heraus, faltete sie sorgfältig in der Mitte und warf sie Ashley in den Schoß.
»Da ist Ihr Geld, Herr Ashley«, sagte er mitleidig lächelnd. »Tullio ist nicht dumm. Er weiß, von wem er lebt. Ist es nicht nett von mir, daß ich das Geld für Sie gespart habe?«
»Schönen Dank«, erwiderte Ashley.
Orgagna grinste gutgelaunt.
»Für einen Mann von ihrer Erfahrung sind Sie manchmal reichlich naiv, Ashley. Haben Sie im Ernst geglaubt, ein Bursche wie Tullio Riccioli würde einen reichen Mäzen wie mich für fünfhundert Dollar verkaufen? Das kann er an einem Nachmittag mit einer reichen alten Jungfer verdienen. Doch was wird aus ihm, wenn die alte Jungfer abreist, und wenn Sie abreisen? Dann ist er wieder auf mich angewiesen. Das weiß er ganz genau, glauben Sie mir. Für die Mitteilung, daß Sie Verbindung mit George Harlequin suchen, hat er von mir dreimal soviel bekommen.«
Ashley sagte nichts. Sein Kopf summte. In seinem Magen revoltierte das Essen, der Wein und der Kognak.
»Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht?« fragte Orgagna übergangslos.
»Die Antwort ist dieselbe – kein Geschäft zu machen!«
»Sie haben die Photokopien doch, nicht wahr?«
»Ja.« Jetzt brauchte er nicht mehr zu lügen.
Orgagna erkannte den neuen Ton in seiner Stimme und sah ihn von der Seite an.
»Es ist Ihre letzte Chance, Ashley«, sagte er obenhin.
»Scheren Sie sich zum Teufel«, rief Richard Ashley wütend.
Der Herzog zuckte die Schultern und legte sich in seinen Stuhl zurück, die Augen hinter großen grünen Sonnengläsern verborgen. Auch Ashley ließ sich in den Liegestuhl sinken. Ihm war schwindlig und ein bißchen übel. Seine Hände waren feucht, auf Oberlippe und Stirn
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