Die Stunde des Jägers - EXOCET
unten die Haut gerettet. Wenn du nicht gewesen wärst, trüge ich nun wieder Handschellen.«
»Wieder?« fragte sie.
»Gestern wurde ich von der Polizei festgenommen. Man
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wollte mich mit dem Zug nach Glasgow bringen, aber ich konnte entwischen, ging zu Fuß über den Berg und bege gnete dir.«
»Ein Glück für Donal«, meinte sie. »Und für mich auch, wenn man es recht bedenkt.«
»Sprichst du von Murray? Belästigt er dich schon lange?«
»Seit ich dreizehn bin«, versetzte sie gelassen. »Es war nicht so schlimm, als Mutter noch bei uns wohnte. Sie hielt ihn in Schach. Aber als sie weglief…« Sie hob die Schulter. »Ganz ist er nicht an mich herangekommen, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Ich dachte schon ernsthaft ans Abhauen.«
»Einfach weglaufen? Wohin denn?«
»Zu meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie ist eine echte Zigeunerin und heißt Brana – Brana Smith, nennt sich aber Gypsy-Rose.«
»Dieser Name ist mir schon einmal zu Ohren gekommen«, meinte Cussane lächelnd.
»Sie verfügt über die Gabe – übersinnliche Fähigkeiten«, erklärte Morag ganz ernsthaft. »Sie ist Hellseherin, benutzt Kristallkugeln, Tarot-Karten und liest den Leuten aus der Hand. Wenn sie nicht auf Jahrmärkten arbeitet, wohnt sie in ihrem Haus in London – Wapping, direkt an der Themse.«
»Und dort willst du hin?«
»Oma sagte schon immer, ich könnte zu ihr, wenn ich älter bin.« Sie richtete sich mit einem Ruck auf. »Und Sie? Wollen Sie nach London?«
»Kann sein«, erwiderte er langsam.
»Dann können wir ja gleich zusammen reisen.« Das sagte sie so gelassen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
»Nein«, erwiderte er rundheraus, »das geht nicht. Erstens würde ich dich nur noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Zweitens muß ich mich ohne Anhängsel bewegen können. Wenn ich fliehen muß, habe ich es brandeilig, und kann nur an
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mich selbst denken.«
Ihr Blick war verletzt, aber sie zeigte keine Gefühlsregung, sondern stieg einfach aus dem Jeep und blieb am Wegrand mit den Händen in den Taschen stehen. »Gut, ich verstehe. Sie fahren allein weiter. Ich laufe zurück ins Tal.«
Für einen Augenblick tauchte das erbärmliche Lager vor seinen Augen auf, und er stellte sich die langsame und im Laufe der Jahre unvermeidliche Verrohung vor. Dazu war sie zu schade. Viel zu schade.
»Sei doch nicht dumm«, sagte er. »Steig ein!«
»Wozu?«
»Ich brauche dich am Steuer, während ich die Karte lese. Wir müssen durch das Tal da unten und über den Hügel in der Mitte. Außerhalb von Larwick liegt in Glendhu ein Gehöft.«
Sie setzte sich rasch ans Steuer, lächelte. »Haben Sie dort Freunde?«
»Kann man kaum sagen.« Er griff nach seiner Reisetasche, hob den doppelten Boden an und holte das Bündel Banknoten heraus. »Mit so was sind sie zu gewinnen. Das geht letzten Endes den meisten Menschen so.« Er löste einige Scheine, faltete sie und steckte sie in die Brusttasche ihrer alten Matrosenjacke. »Damit solltest du auskommen, bis du deine Oma gefunden hast.«
Sie machte vor Erstaunen große Augen. »Das kann ich nicht annehmen.«
»O doch. So, und jetzt setzt du dieses Gefährt besser in Bewegung.«
Sie legte den ersten Gang ein und fuhr vorsichtig den steilen Weg hinunter. »Und was wird, wenn wir ankommen? Aus mir, meine ich?«
»Das werden wir schon sehen. Vielleicht kannst du dich in einen Zug setzen. Allein kommst du bestimmt gut zurecht. Ernsthaft sind sie nur hinter mir her. In Gefahr bist du nur in
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meiner Gesellschaft.«
Darauf gab sie keine Antwort. Er studierte schweigend die Landkarte. Endlich sprach sie wieder. »Diese Sache mit mir und Murray. Finden Sie das widerlich? Die Verderbtheit?«
»Verderbtheit?« Er lachte leise. »Mein liebes Kind, du hast ja keine Ahnung, was echte Verderbtheit, das wirkliche Böse, ist, obwohl Murray vermutlich viehisch genug ist. Ein Priester bekommt in einer Woche mehr Sünden zu hören, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben erfahren.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Ich dachte, Sie gäben sich nur als Priester aus.«
»Hab’ ich das gesagt?« Cussane steckte sich eine neue Zigarette an, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Als der Polizeiwagen vom Parkplatz des Flughafens Glasgow fuhr, sagte Chefinspektor Trent zum Fahrer: »Sie wissen, wohin es geht. Wir haben nur
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